Das Herz
Briony hätte sich lieber selbst die Augen ausgestochen, als vor der Qar-Frau gegen Zornestränen anzukämpfen, doch als sie sich zum Gehen wandte, um diesen idiotischen, von vornherein absurden Kriegsrat zu verlassen, sah sie eine hochgewachsene Gestalt von der kleinen Zeltsiedlung der Qar über den Strand heranhumpeln. Zuerst dachte sie wegen des seltsam steifbeinigen Gangs, es wäre ein Qar, doch dann erkannte sie, dass die schlanke Gestalt, von dem humpelnden Gang abgesehen, ganz menschlich aussah. Das Haar der Gestalt schien vom selben Rot wie das Feuer.
Merkwürdig,
dachte sie —
genau wie Barricks Haar ...
Wie vom Donner gerührt stand sie da, als ihr Bruder an ihr vorbeihinkte, geradewegs auf die Zwielichtlerkönigin zu. Er trug lose Kleidung, Hemd und Stiefelhose aus hellem Stoff, etwas dunkler als seine Haut, die ihr blasser schien, als sie sie in Erinnerung hatte, und er war einen ganzen Kopf größer als Barrick zuletzt. Trotzdem gab es keinen Zweifel: Es war ihr Bruder.
»Saqri!«, rief er. »Saqri, jetzt verstehe ich!« Er merkte, dass ihn die anderen anstarrten, wenn er auch Briony noch nicht gesehen hatte. Er machte eine Geste, die sie nicht kannte. »Verzeiht.« Er wandte sich wieder an die Königin. »Qinnitan! Das Mädchen Qinnitan — sie ist hier! Sie ist hier, und ich glaube, sie muss unter der Burg sein! Ich hatte sie die längste Zeit vergessen — aber wie kann das sein? Wie konnte ich jemand so Wichtiges vergessen?«
Saqri kam nicht dazu, ihm zu antworten, ehe Briony sich durch die bizarren Kreaturen auf der Qar-Seite des Feuers zwängte und vor ihn trat. »Barrick? Bist du's wirklich?« Aber er war es — ganz unverkennbar. Sie warf sich ihm an die Brust und umarmte ihn. »Barrick!«
Zu ihrer Verblüffung reagierte er überhaupt nicht; es war, als umarmte sie ein steinernes Orakel im Tempel. »Wer ist das?«, fragte er, machte sich los und trat einen Schritt zurück.
Sie starrte ihn schockiert an. Es war ganz ohne Zweifel das Gesicht, in das sie ihr Leben lang geblickt hatte wie in einen Spiegel — ihr Zwillingsbruder. »Barrick, ich bin's, Briony! Deine
Schwester!
Erkennst du mich nicht mehr?« Hatte sie sich so verändert?
Und dann erschien etwas in seinen Augen ... aber nicht das, was sie erwartet hatte, ganz und gar nicht. Sie sah einen Funken des Erinnerns, aber auch Misstrauen, ja sogar Ärger. »Ah, natürlich — Briony. Und ist es dir wohl ergangen, Schwester? Es ist lange her.«
»Wohl ergangen?« Sie wich zurück, als hätte er sie geohrfeigt. »Barrick Eddon, was ist los mit dir? Warum behandelst du mich so? Seit unserer Trennung habe ich jeden Tag um dich gebangt und dich schmerzlich vermisst. Willst du sagen, du hast überhaupt nicht an mich gedacht?«
Statt zu antworten, wandte er sich an die Zwielichtlerkönigin, als suchte er Hilfe.
»Es ist viel geschehen, seit ihr euch das letzte Mal gesehen habt«, sagte Saqri. »Du wirst zweifellos vieles mit deiner Schwester zu besprechen finden, wenn das hier vorbei ist, Barrick Eddon. Aber jetzt ist unsere Zeit knapp.«
Barrick nickte, als fasste das alles perfekt zusammen. »Ich wünsche dir alles Gute, Schwester«, sagte er und nickte dann Eneas zu. »Und unseren übrigen sterblichen Verbündeten natürlich auch. Saqri, ich muss Euch sprechen, wenn Ihr zurückkommt. Ich fühle Qinnitans Gegenwart. Sie ist
hier —
ich bin mir sicher, der Autarch hat sie.« Er zögerte, als wollte er vielleicht noch etwas sagen, drehte sich dann um und hinkte in Richtung Qar-Lager davon.
Briony starrte ihm nach, erfüllt von einem Schmerz, als hätte sie eine Handvoll eisiger Steine verschluckt. Gleich darauf war ihr Bruder wieder im Dunkel verschwunden.
27
Voll mit dem Zeug
»Der alte Aristas war jetzt zu schwach, um mit ihm zu gehen, also machte sich Adis auf einem weißen Pferd, das ihm die Dorfbewohner gegeben hatten, auf die Reise, nur begleitet von einem Diener namens Moros.«
Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
Die Kobolde waren damit beschäftigt, Yasammez' Zelt abzubauen, hüpften jedoch, als sich die Elementargeister flimmernd materialisierten, flink wie Grillen aus dem Weg, um sich dann gleich wieder an die Arbeit zu machen. Weder Yasammez' Obereremitin Aesi'uah noch sonst jemand beachtete sie groß. Kobolde, insbesondere die, die in den größeren Häusern arbeiteten, waren für ihre Verschwiegenheit bekannt.
Nur ein paar Dutzend anderer Wesen hielten sich noch in der
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