Das Herz
eins kann ich sagen — es ist Euch nicht bestimmt, Euren Vater zu retten. Ich gehöre nicht zu den Graureihern meines Volkes — ich kann nicht durch den Schleier der Zukunft schauen —, aber ich fühle stark und klar genug,
wie die Dinge sein müssen,
um Euch das zu sagen. Opfert das Leben Eurer Krieger nicht für ein selbstsüchtiges Hazardspiel, Briony Eddon. Es ist möglich, dass wir Qar ihn finden und befreien, aber sein Schicksal wird ihn ereilen, ob Ihr an seiner Seite seid oder nicht.«
In Brionys Augen standen Tränen; sie blinzelte, wischte sie dann weg. Saqris Stimme wurde jetzt leiser, fast schon freundlich. »Ich kann nicht sagen, dass es mir leid tut, nicht nach all dem, was Eure Familie meiner angetan hat, aber ich weiß, was Verlustschmerz ist, und ich weiß auch, was Verwirrung ist. Lange Zeit wusste ich nicht, ob ich hassen oder vergessen sollte. Inzwischen glaube ich, dass Hass sinnlos ist ... aber das ist Vergessen ebenfalls. Die, die zu leicht vergessen, sind Spielzeug des Schicksals.«
Wieder drohten Brionys Tränen überzulaufen. »Aber was soll ich denn tun?«, fragte sie und war sich nicht sicher, mit wem sie sprach.
»Leben, Briony Eddon«, erklärte die Zwielichtlerkönigin. »Leben und Euch erinnern. Euch erinnern und
lernen.«
Das dunkelhaarige Mädchen lief jetzt vor ihm weg. So beruhigende Worte er ihr auch zurief, sie wollte nicht stehenbleiben, es war, als wäre er selbst jetzt das, wovor sie sich fürchtete. Er wusste nicht gleich, wo sie waren — zuerst war er sich nicht einmal sicher, dass es überhaupt ein Ort war —, doch während er ihr hinterherrannte, erkannte er nach und nach die Wände und Steinböden von Südmarksburg.
Er war jetzt in der Gemäldegalerie, vor dem Bild der Königin Sanasu, das ihn so oft gefesselt hatte. Als er jetzt in die dunklen Augen seiner Vorfahrin blickte, sah er erstmals, dass ihr Ausdruck nicht so fern und hochmütig war, wie er immer gedacht hatte, sondern vielmehr eine Mischung aus verschiedenen Regungen — Trauer, Angst, Zorn und vielleicht auch etwas Hoffnung —, und, seltsamer noch, das Bild bewegte sich, walte sich, als ob sich etwas hindurchzukämpfen versuchte.
Er streckte die Hände nach der rothaarigen Königin aus und begann, die Oberfläche wegzukratzen. Es war gar kein Bild, merkte er — es war Erde, nur Erde, aber je mehr er scharrte, desto mehr Erde war da. Er fühlte immer noch die Bewegung, gleich unter seinen Händen, also verdoppelte er seine Anstrengung, grub schneller, noch schneller, bis seine Finger etwas Kleines, Hartes, Kaltes zu fassen bekamen. Er zog es aus der Erde, die es festzuhalten versuchte: Es war eine Steinstatue des dunkelhaarigen Mädchens, das Gesicht mit dem Ausdruck schrecklicher Angst. Vor seinen Augen zerfiel die Statue in einen Klumpen glänzender Käfer, die ihm durch die Finger glitten und davonstoben wie heruntergefallene Edelsteine. Er schrie auf, wollte sie einfangen, aber binnen Augenblicken waren sie alle wieder in der Erde verschwunden.
»Die Zeit wird knapp, Eneas Karallios«, sagte die Zwielichtlerkönigin. Im Licht der brennenden Schiffe zuckten und tanzten die Schatten der Versammelten wie Dämonen. »Seid Ihr zu einer Entscheidung gelangt?«
»Bitte, traut ihnen nicht einfach, Eneas?«, flehte Briony.
»Es tut mir leid, Prinzessin«, sagte er. »Aufrichtig leid, glaubt mir, aber ich muss die Sicherheit meiner eigenen Leute obenan stellen, ja letztlich mein eigenes Land. Das heißt, ich muss
meinen
Instinkten vertrauen, und die sagen mir, dass die Zwielichtler recht haben ...« Er hob die Stimme. »Wir werden es so machen, wie Ihr sagt, Königin Saqri.«
»Gut. Dann haben wir hier getan, was wir können«, sagte Saqri. »Die restlichen Südländer sind in den Bergen zerstreut. Die kommen so schnell nicht wieder.«
Briony sagte nichts. Sie würden das Schicksal ihres Vaters in die Hände der Zwielichtler legen. Kurz entwickelte sie wilde Phantasien, wie sie ihn auf eigene Faust suchen könnte, doch Briony wusste, sie konnte Eneas und seine syanesischen Soldaten ihre Burg nicht ohne sie befreien lassen. Sie verfiel in Resignation.
»Aber wenn sie sehen, wie wenige wir sind, werden die Xixier aus den Bergen zurückkommen«, sagte Eneas zu Saqri. »Was dann?«
»Dann seid Ihr jenseits des Wassers und außer ihrer Reichweite«, versicherte ihm die Königin. »Dafür werden unsere Verbündeten sorgen ...«
»Verbündete?«, fragte Eneas. »Was sind das für Verbündete ...?«
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