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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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hält.«
Wieder löste diese schrecklich-schöne Stimme in Barrick den Drang aus, sich dem Etwas zu Füßen zu werfen und um Vergebung zu betteln oder sich in dem silbernen Meer zu ertränken. Doch am meisten setzte ihm zu, dass es die Haut seines Vaters war, die das Etwas trug, dass es die Gesichtszüge seines Vaters waren, die diese nichtmenschlichen Emotionen auf hölzerne Art bewegten. Wie konnte er je geglaubt haben, Olin zu hassen, wenn ihm dieser Anblick dermaßen das Herz zerriss?
    »Dann musst du tun, was ich sage! Du musst!« Der Autarch schloss die Augen und verharrte vollkommen reglos wie in einem Moment höchster sexueller oder religiöser Ekstase. Noch nie hatte Barrick einen so verzückten Ausdruck auf dem Gesicht eines Menschen gesehen.
    »Solange ich hiergehalten werde, erfülle ich jeden Befehl«,
sagte das Etwas mit den toten Augen.
»Ich brenne diese Welt bis auf die Grundfesten nieder, wenn du es mich heißt. Ich sauge das Leben aus jeder Pflanze und jedem Vogel, aus allem, was atmet und sich bewegt.«
Und dabei lachte es, so melodisch und grausig zugleich, dass die Feuerblumenstimmen in Barrick vor Schreck verstummten.
    Dieser Gott ist wahnsinnig,
wurde ihm klar.
Er war zu lange aus der Welt ausgesperrt. Wie ein Träumer, der niemals wach wird, kennt er keinen Unterschied mehr zwischen dem, was in ihm und was außerhalb seiner selbst ist.
    Und jetzt ist er auf die Welt losgelassen, mit dem Irren in der goldenen Rüstung als einzigem Hüter. Der Autarch lachte jetzt ebenfalls, ein lautes, erregtes Trompeten, fast schon ein Triumphschrei. »Ja! Ja! Mein mein mein!« Es war schwer zu sagen, wer von beiden weniger menschlich klang.
    »Mach mich unsterblich!«, befahl der Autarch, als er sich wieder gefasst hatte. In der Stille, die jetzt die riesige Höhlenkammer erfüllte, trug seine Stimme weit.
    »Das werde ich nicht tun«,
sagte der Gott mit Olins Gesicht.
    »Was?« Sulepis richtete sich hoch auf und wandte sich der bewegungslosen Gestalt zu. Der Autarch war größer als das Wesen, das Olin gewesen war, aber trotz seiner Statur und der Pracht seiner Rüstung und seines Federumhangs hätte niemand den Autarchen für den Mächtigeren der beiden halten können. Der Gott lohte in Olin so hell, dass man aus verschiedenen Blickwinkeln die Adern und Knochen des Königs erkennen konnte. Der Schädel unter dem Gesichtsfleisch des Königs hätte aus ebenjenem Glimmstein sein können, der die Wände der weiten Kaverne sprenkelte. »Tu, was ich sage, oder ich vernichte dich!«
    Barrick wurde immer noch festgehalten. Etwas von seiner Kraft war zurückgekehrt, aber nicht genug: Er blutete aus vielen Wunden, und unter der Hülle seines Fleischs waren Knochen gebrochen.
    »Aber du kannst mich nicht vernichten, Sulepis am-Bishakh«,
sagte der Gott in sachlich-vernünftigem Ton.
»Dazu habt ihr Sterblichen nicht die Macht. Ihr könnt mich nicht zwingen.«
    »Was? Willst du sagen, du hast
gelogen?«
Die Stimme des Autarchen war jetzt plötzlich nicht mehr schrill, sondern auf bedrohliche Art seidenweich. »Die Versprechungen, die du mir durch das große Sehglas der Khau-r-Yisti hast zukommen lassen, waren bedeutungslos?« Der Autarch drehte sich um, als richtete er sich an seine Soldaten, obwohl die meisten von ihnen auf dem steinigen Boden kauerten und das Gesicht verbargen oder an entferntere Stellen der Insel zurückgewichen waren. Nur die Leibgarde des Autarchen, gut zwei Dutzend der gefürchteten Leoparden, waren noch bei ihm, den Priestern und den Gefangenen auf der Plattform. »Glaubt ihr, ich rechne nicht mit solchen Tricks, wenn ich es mit einem zu tun habe, der schon einmal wegen seiner Heimtücke von der Erde verbannt wurde?« Er wandte sich wieder der reglosen Gestalt zu. »Ich werde dich mit Mitteln zwingen, die dir gar nicht gefallen werden, Todesgott.«
    Olins Gesicht, das so fahl glomm wie ein Pilz in dunklem Erdgrund, verzog sich zur gespenstischen Imitation eines Lächelns.
»Erzähl mir von diesen Mitteln, kleiner Herrscher. Oder besser noch, zeig sie mir.«
    »A'lat!«, rief der Autarch. »A'lat! Bringt das Buch!«
    Eine kleine, dunkelhaarige Gestalt, runzlig und gebeugt wie ein Affe, hinkte rasch vom hinteren Teil der Plattform herbei, in der knorrigen Hand eine verschlissene, braune Schriftrolle. Die Gestalt begann von der Schriftrolle abzulesen. Die Feuerblumenstimmen hörten die Worte und riefen ihre Bedeutung in Barricks schmerzenden Kopf.
»Xergal, ich nenne dich beim Namen und binde

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