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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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niemand gesagt. Ich habe es einfach nur gedacht.«

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Ein Kuckucksei
    »Der mächtige Kernios erklärte, jetzt, da er seine Gemahlin weggeschickt habe, brauche er eine neue Frau, und wenn Zoria an Mesiyas Stelle trete, werde er zulassen, dass die Götter den Waisenknaben zu sich in den Himmel nähmen ...«
    Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
    An Seine Königliche Hoheit Eneas Karallios, Prinz von Syan und Nord-Krace.

Mein lieber Freund und Beschützer,

das Herz noch voller Trauer und Schmerz ob des Verlusts meines geliebten Vaters und meines Zwillingsbruders, auch wenn dieser noch lebt und atmet und nur einen kurzen Fußweg von dem Zimmer entfernt ist, in dem ich sitze, mache ich mich jetzt an diese Aufgabe, der ich den ganzen Tag ausgewichen bin. Lieber, als diesen Brief zu schreiben, würde ich mich den langweiligsten Pflichten stellen, selbst der Durchsicht der Bücher mit Nynor, die erneut ergäbe, dass sich mein Königreich in einem Zustand der Armut und Misswirtschaft befindet, wie man ihn sich schlimmer nicht vorstellen kann. Doch ich werde ihn schreiben, denn die Alternative wäre, Euch diese schmerzhaften Worte leibhaftig zu sagen und ihre Wirkung in Eurem teuren Gesicht zu sehen.

Eneas, ich kann Euch nicht heiraten. Ich habe versprochen, darüber nachzudenken, sobald ich wüsste, was mich hier in Südmark erwartet, also habe ich Euren Antrag in aller Gründlichkeit und Dankbarkeit erwogen. Wer würde sich durch einen solchen Antrag nicht geehrt fühlen? Und mehr noch, welche Frau, selbst wenn sie Euch nicht so bewunderte, wie ich es tue, wäre so dumm, einen solchen Antrag abzulehnen? Nachdem ich monatelang mit Euch gereist bin und Eure Qualitäten erlebt habe, fühle ich mich in einem Maße geehrt, wie ich es gar nicht ausdrücken kann, aber ich kann dennoch nicht Eure Gemahlin werden. Die Frau, der dies eines Tages beschieden sein und die als Königin an Eurer Seite regieren wird, dürfte sich wohl als die glücklichste Frau ganz Eions schätzen.

Bitte, edler Eneas, versteht mich richtig: Es ist keine Unzulänglichkeit Eurer Person, die mich zu dieser Entscheidung bringt, nichts in Eurem Charakter oder an der Art, wie Ihr mich behandelt habt. Ihr habt Euch mir gegenüber nur anständig und ehrenhaft verhalten und mir ein Maß an Güte erwiesen, wie ich es niemals verdienen könnte, selbst wenn ich von jetzt an mein Leben einzig dieser Aufgabe widmen würde. Es ist vielmehr mein Land, das mich beansprucht. Es ist mein Volk, das mich braucht. Und es ist mein zerstörter Familiensitz, der meine volle Aufmerksamkeit fordert. Ich weiß, Ihr würdet mich nicht davon abhalten, Südmark wiederaufzubauen, ja sogar mein Denken hauptsächlich auf mein eigenes Volk zu richten, aber Ihr würdet Eurem eigenen Volk einen schlechten Dienst erweisen, wenn Ihr dauerhaft abwesend wärt, also wäre in unserer Ehe das Getrenntsein von vornherein enthalten. Außerdem erscheint es mir unausweichlich, dass, in Anbetracht Eures Geschlechts und der Bedeutung Eures Landes, Südmark zu einem Außenposten von Syan würde. Das allein ist für mich Grund genug, keinen Monarchen eines anderen Landes zu heiraten. Sehen zu müssen, was die letzten Jahre aus meiner geliebten Heimat gemacht haben, zerreißt mir das Herz, und mir ist klar geworden, dass ich in erster Linie die Tochter meines Vaters bin. Mein Volk bedeutet mir tatsächlich mehr als mein eigenes Glück.

Ihr werdet sagen, das seien doch alles keine echten Hindernisse für eine Heirat, es seien nur die Ängste einer jungen Frau, die viele Verluste erlitten hat. Das mag ja sein, aber Ihr verdient Besseres als eine halbherzige Ehefrau. Ihr seid das Inbild trigonatischen Rittertums, lieber Eneas, und Ihr verdient eine Gefährtin, die immer an Eurer Seite ist, ohne ihr eigenes vernachlässigtes Königreich zu beklagen.

Doch bitte glaubt mir — ich stehe tief in Eurer Schuld. Was auch geschieht, ich bete, dass die Freundschaft unserer Länder ewig bestehen möge, vor allem aber, dass wir beide, Ihr und ich, ebenfalls gute Freunde bleiben ...

    Die Wachen reagierten erschrocken auf seinen Gesichtsausdruck, aber er ignorierte sie — nicht ihnen galt sein Ärger.
    Eine der Dienerinnen ließ ihn ein; er ging im Vorzimmer auf und ab, bis sie wiederkam und ihn in Brionys Rückzugszimmer führte. Die Prinzessin hatte gerade einen Brief geschrieben; als er eintrat, bestreute sie ihn mit Löschsand, rollte ihn zusammen und legte ihn

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