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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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brauchten, um Königin Saqri aufzuerwecken, würden die Burg und ihre Bewohner verschont werden.
    Die Königin lag im Sterben, trieb allmählich davon, so wie fallender Schnee im Wind treibt — aber der Gott lag auch im Sterben, schon seit Jahrhunderten. Kupilas, wie ihn die Nordländer nennen, siechte schon lange an der tückischen Wunde dahin, die ihm Zosim zugefügt hatte. Aber jetzt war sein Ende wirklich gekommen, und alle, die so etwas spüren konnten, wussten es. Die schlafenden Götter an ihrem Ort jenseits dieser Welt spürten es. Selbst die, die nur einen Teil Götterblut in sich hatten, konnten es spüren — Kituyik, der mächtige einäugige Halbgott, dem Ferras Vansen begegnet ist, und selbst Euer eigener Bruder und Euer Vater, Briony Eddon.«
    Vansen war verdutzt, als er seinen Namen hörte, aber das war nichts im Vergleich zu Brionys Reaktion. »Willst du sagen, Vater und Barrick
wussten,
was kommen würde?«, fragte sie herrisch.
    »Nein, aber die Nähe des sterbenden Gottes und des Ortes hier unter der Burg, wo der Himmel die Erde berührte, als die Götter verbannt wurden, hat ihr Blut und ihr Denken in Unruhe versetzt.«
    »Aber wie kann ein Kind wie du, selbst
wenn
es von Zwielichtlern aufgezogen wurde, das alles wissen — die Privatangelegenheiten sämtlicher Götter und auch noch meiner Familie?« Etwas Kaltes und Hartes hatte sich in die Stimme der Prinzessin geschlichen, und Vansen erkannte jetzt, was es war — nicht Verachtung, sondern Angst: Briony hatte Angst vor dem, was sie von diesem Wunderkind erfahren könnte, und wenn sie Angst hatte, versteckte sie sich hinter ihrer königlichen Maske.
    »Das ist Teil der Geschichte«, sagte das goldhaarige Kind. »Die kommt ja jetzt —
meine
Geschichte. Jetzt erst sehe ich sie klar und ganz. Sie hat die Form eines Rätsels.« Der Junge nickte, fast schon befriedigt. »Meine erste Mutter hat meine zweite Mutter gebeten, mich zu verstecken. Meine dritte Mutter hat mich meiner zweiten Mutter gestohlen. Meine vierte Mutter hat mich aufgenommen, als meine dritte Mutter mich verlor. Und dann hat mich meine
erste
erste Mutter gerettet.«
    Vansen passte die Aura des Mysteriösen nicht, die die Worte des Jungen umgab. Dass Briony litt, war offensichtlich, und den beiden Funderlingen ging es auch nicht besser. »Was heißt das, ›erste erste Mutter‹?«
    »Meine erste Mutter war die Herzogin, die gab mich meiner zweiten Mutter, der Amme, die in einem von den Bauerndörfern außerhalb von Südmarkstadt wohnte. Eine Qar-Frau stahl mich der Amme, obwohl sie keinen Wechselbalg dalassen konnte, sodass der Diebstahl herauskam. Meine dritte Mutter wiederum verlor mich an den blinden König der Qar, der eine höhere Aufgabe für mich hatte, als nur die Feuer der Diebin-Mutter in Gang zu halten und ihre Böden zu fegen. Und als ich über die Schattengrenze gebracht wurde, haben mich Mama Opalia und Papa Chert zu sich genommen.«
    »Ja, das haben wir«, sagte Opalia mit bewegter Stimme. »Wir wollten dich. Stimmt's, alter Mann?«
    Ihr Mann zögerte nicht. »Ja, Junge, das stimmt.«
    »Und ich habe von euch Sachen gelernt, die ich von den anderen nicht gelernt hatte«, sagte Flint. »Tatsächlich brauchte ich die Weisheit all meiner Familien, weil das, was dann kam, eine dunkle, dunkle Zeit war.
    Als ich Ynnirs Spiegel an den Ort brachte, wo Krummling die letzten Götter verbannt hatte, zu dem Etwas, das ihr den Leuchtenden Mann nennt, versetzte mich Kupilas' Lebensenergie, die in den Spiegel strömte, in eine Art Ekstase. Selbst ein sterbender Gott besteht noch aus Kräften, die Menschen nicht verstehen und schon gar nicht zähmen können, und etwas vom Denken des sterbenden Gottes hat mein Denken berührt. Für diesen einen Augenblick konnte ich sehen, was der Gott sah, ich konnte durch Berge schauen, als wären sie aus Glas, ich konnte das, was
werden könnte,
fast so klar sehen wie das, was war und was gewesen war — und ich sah es alles im selben Moment.
    Und in diesem Moment geschah es, auch wenn ich es da noch nicht merkte, dass Kupilas der Elfenbein- und Bronzehändige einen Tropfen seiner göttlichen Essenz in mir hinterließ — einen Samen, wenn man so will. Und der ist seither in meinem Kopf und meinem Herzen aufgegangen. Mehr und mehr überlagerte er meine eigenen Gedanken mit Bildern und Deutungen, die mir fremd und unverständlich waren — aber nicht ganz. Langsam wuchs die Präsenz, und ich wuchs langsam mit, sodass ich jetzt gar nicht mehr sagen

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