Das Herz
Dazu gehörten auch eigene Rinder und Schafe, aber Eneas bestand darauf, diese Tiere nur sparsam zu schlachten, da niemand wusste, was rund um Südmarksburg noch an Fourage zu finden war. Also aßen die Männer in der Regel Suppe und Dauerbrot und was auf den verlassenen Äckern noch zu finden war. Einige Edelleute hatten schmackhaftere Vorräte mitgenommen, aber Eneas war ein glühender Verfechter des Prinzips, dass eine Armee alles teilen müsse, Entbehrungen wie unerwartete Genüsse, und wenn er die teuren, in Ölfässern eingelegten Fasanen, die diese Ritter mitführten, an die Fußsoldaten verteilen ließ, sahen die meisten Edelleute ein, dass es sich nicht lohnte, für sich besseres Essen einzuschmuggeln. Briony konnte nicht umhin zu bemerken, dass auf jeden Edelmann, der sich über den Entzug seiner Lieblingsleckereien ärgerte und schlecht auf Eneas zu sprechen war, ein Dutzend gemeine Soldaten kamen, die den Prinzen fast schon für eine Art Gott hielten.
Doch selbst die Adligen, die ihre Delikatessen lieber für sich behalten hätten, verehrten den Prinzen geradezu. Anfangs hatte Briony geglaubt, die Dankesbeteuerungen und Treuegelöbnisse, die Eneas jedes Mal entgegenschlugen, wenn er zwischen den Zelten umherging, seien inszeniert, doch bald hatte sie gemerkt, dass das alles echt war. Eneas war einfach einer jener Heerführer, die Härten wie Belohnungen mit ihren Soldaten teilten und nie vergaßen, dass trotz aller Standesunterschiede — deren er sich sehr wohl bewusst war und die er in geradezu altmodischer Weise verfechten konnte — das Leben eines gemeinen Soldaten nicht minder wichtig war als das ihrer mächtigsten Gefolgsleute. Briony wusste nicht, ob der Prinz seine Beliebtheit bei den gewöhnlichen Soldaten wirklich nicht zur Kenntnis nahm — es schien so, aber vielleicht war das ja auch nur Bescheidenheit. Eneas unter seinen Soldaten zu sehen, war eine Art Lektion für Prinzen — und auch für Prinzessinnen, befand Briony.
Das Seltsamste an dieser Reise in den Norden war für Briony weniger die Veränderung, die mit den Landen hier oben vor sich gegangen war, als vielmehr die Erkenntnis, wie gründlich sie sich selbst verändert hatte. Es war gerade mal sechs Monate her, dass sie aus Südmark geflohen war — und zwölf Monate, dass sie von der Gefangenschaft ihres Vaters erfahren hatte —, aber sie hatte das Gefühl, mit der Briony Eddon von vor einem Jahr kaum noch etwas gemein zu haben. Wie wenig hatte dieses Mädchen von der Welt gewusst! Jene Briony hatte nie auf dem Thron gesessen, außer um mit ihrem Bruder kindliche Spiele zu spielen, wenn die Hofgeschäfte für den Tag beendet waren. Die jetzige Briony hatte als Regentin auf diesem Thron gesessen und Entscheidungen in Handels-, Rechts- und selbst Kriegsangelegenheiten gefällt. Jene Briony war nie ohne ein Gefolge von Wachen und Hofdamen außerhalb der Burg gewesen. Die jetzige Briony hatte im Heuschober geschlafen und unter einem Wagen im regennassen Wald. Jene Briony hatte jahrelang mit derselben halbherzigen Konzentration fechten gelernt, mit der sie Rechenaufgaben gelöst oder Passagen aus dem Buch des Trigon gelesen hatte. Die Briony, die jetzt hier stand, hatte um ihr Leben gekämpft und sogar einen Mann getötet.
Aber es waren nicht nur die extremen Erfahrungen, die sie verändert hatten, es waren all die vielen kleinen Dinge, die sie erlebt hatte, all die gewöhnlichen und außergewöhnlichen Leute, denen sie begegnet war, Schauspieler, Diebe und Verräter, Kobolde und Kallikan, und all die Situationen, die sie hatte ertragen müssen — Hunger, Angst, kein Dach über dem Kopf, keine Freunde, kein Geld. Das Einzige, was sie noch mit der Briony von damals teilte, dachte sie, waren der Name und der Geburtsort.
Es war seltsam, aber es war auch aufregend. Sie schuf diese neue Briony, wie eine Feder Worte auf Pergament schrieb. Was würde die Feder als Nächstes schreiben? Das ließ sich nicht vorhersagen. Doch trotz der Gefahren, die vor ihr lagen, und der Verluste, die sie bereits erlitten hatte, war sie zum ersten Mal im Leben zufrieden damit, einfach nur abzuwarten, was die Zukunft bringen würde.
Wobei ihr, rief sie sich in Erinnerung, ja auch nicht viel anderes übrigblieb.
Qinnitan war ihm wieder entkommen, aber nur vorläufig.
Daikonas Vo war krank oder schwerverletzt, sonst hätte sie es nie geschafft, ihm auch nur kurz davonzurennen, geschweige denn den Vorsprung so lange zu halten. Doch obwohl der Soldat sich
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