Das Hexen-Amulett (German Edition)
außergewöhnlicher Mensch er war. Kit Aretine, meine Liebe, hat eine Fülle großer Talente verschwendet.» Mordecai Lopez trank von seinem Wein und schaute auf das Siegel. Als er das Glas abstellte, richtete er seinen Blick auf Campion und sprach die Worte, die sie im Grunde wenig überraschten, ihre Seele aber zutiefst erschütterten. «Und er war Euer Vater.»
24
Die Glocken von St. Mary’s schlugen elf. Von der großen Kathedrale hallte vielstimmiges Geläut über den Fluss. Die Stadttore wurden geschlossen. Von den abertausend Bewohnern waren die meisten schon zu Bett gegangen. Sie schliefen einem neuen Tag entgegen, der sich von dem vergangenen kaum unterscheiden würde. Für Campion aber sollte sich mit dieser Nacht alles ändern. Matthew Slythe, jener düstere Puritaner, der sie mit dem Zorn Gottes beladen hatte, war nicht ihr leiblicher Vater. Ihr Vater war ein gescheiterter Poet, ein Gelehrter, Liebhaber und Exilant. Kit Aretine. Campion schlug in dem entleibten Buch wieder die Seite mit dem Holzschnitt auf und suchte in dem hochmütigen, gebieterischen Porträt nach Ähnlichkeiten mit sich selbst. «Mein Vater?»
«Ja», antwortete Lopez mit sanfter Stimme.
Campion hatte das Gefühl, in einen tiefen, dunklen Abgrund gestürzt zu sein, und mühte sich nach Kräften, ans Licht zurückzukehren. ‹Gedichte etc. über verschiedene Themen.› Aber welche? Welche Themen hatten ihren wirklichen Vater inspiriert?
«Angefangen hat alles vor langer Zeit in Italien.» Lopez hatte sich in seinem tiefen Sessel zurückgelehnt. «Dort grassierte ein mörderischer Hass auf mein Volk. Den Anstoß dazu gab, wenn ich mich richtig erinnere, der Tod eines christlichen Kindes, das in einen Fluss gefallen und ertrunken war. Man glaubte, dass wir Juden das Kind entführt und in unserer Synagoge geopfert hätten.» Er lächelte. «Solche Vorwürfe wurden überall gegen uns erhoben. Die Christen fielen über uns her. Euer Vater, damals noch ein sehr junger Mann, hielt sich zufällig in der Gegend auf, und ich glaube, es hat ihm einfach besser gefallen, den Pöbel zu bekämpfen, als sich ihm anzuschließen. Er rettete mir, meiner Frau und meiner Tochter das Leben. Er schlug sich für uns und war beleidigt, als ich ihm zum Dank eine Summe Geld anbot. Am Ende konnte ich ihn dann doch belohnen. Als ich erfuhr, dass er im Tower gefangen war, setzte ich mich mit König James in Verbindung, der sich Geld von mir geliehen hatte. Ich erließ ihm seine Schuld und erwarb dafür die Freilassung deines Vaters.
Er hatte keinen Penny in der Tasche, als ich ihn mit nach Holland nahm. Geld wollte er sich immer noch nicht schenken lassen, aber er schlug mir einen Handel vor. Er war bereit ein Darlehen anzunehmen und versprach, es nach einem Jahr mit Zinsen an mich zurückzuzahlen. Nur den reinen Gewinn wollte er für sich behalten.»
Lopez ließ seine Erinnerungen aufleben und lächelte. «Das war im Jahr 1623. Er kaufte ein Schiff, einen stattlichen Zweimaster, rüstete es mit Kanonen, heuerte Männer an und segelte gen Spanien. Er war ein Pirat, nichts weiter, auch wenn er ein holländisches Patent besaß. Die Spanier hätten sich dadurch nicht davon abhalten lassen, ihn auf kleinem Feuer zu rösten. Aber wenn das Glück Eurem Vater einmal zulächelte, dann lächelte es übers ganze Gesicht.» Lopez trank einen Schluck. «Ihr hättet seine Rückkehr miterleben sollen. Er kam mit zwei weiteren Schiffen, und beide waren voller Gold.» Lopez schüttelte den Kopf. «So viel habe ich nie wieder zu Gesicht bekommen. Es gab zwar zwei andere Engländer, die den Spaniern noch mehr abjagen konnten, aber keiner von ihnen machte sich so wenig aus der Beute wie Euer Vater. Er zahlte mir das geschuldete Geld zurück, behielt einen kleinen Teil für sich und nahm mir das Versprechen ab, alles andere in Verwahrung zu nehmen und Euch, Campion, zur Verfügung zu stellen. Ein Vermögen, meine Liebe, ein wahres Vermögen.»
Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt. Es wurde kühl, doch Lopez machte keine Anstalten, Holz nachzulegen. Er erzählte weiter, und Campion hörte aufmerksam zu. Von einem Fremden erfuhr sie, wer sie war.
Lopez strich sich mit der Hand über den Bart. «Bevor all dies geschah, das heißt vor der unglückseligen Veröffentlichung des Spottgedichtes, hatte sich Kit in eine Frau verliebt. Ja, er war in Liebe entbrannt und schrieb mir, dass er seinem ‹Engel› begegnet sei und heiraten wolle. Ich kannte ihn schon seit sechs Jahren
Weitere Kostenlose Bücher