Das Hexen-Amulett (German Edition)
glauben, dass sie ewig leben werden.» Dr. Fenderlyn war achtundsiebzig Jahre alt und hatte bislang keinen einzigen Tag krank zu Bett gelegen. Dennoch war er ein freudloser Mann, der immer mit dem Schlimmsten rechnete. «Was werdet Ihr jetzt tun, Dorcas?»
«Tun, Sir?»
«Werdet Ihr jetzt Mr Scammell heiraten und noch mehr Patienten zur Welt bringen?»
«Ich weiß nicht, Sir.» Die Zukunft wieder offen zu sehen, ließ Campions Herz vor Freude springen. Sie wusste nur, dass die Hochzeit verschoben war, und fühlte sich wie eine Verurteilte, der vom Kerkermeister mitgeteilt wird, dass die Galgenfrist verlängert ist.
«Ich wünsche einen guten Tag, Dorcas.» Fenderlyn tippte mit der Gerte an die Hutkrempe. «Und sagt Eurem Bruder, dass er mir eine Harnprobe schicken soll. Ich hätte nicht gedacht, dass er die ersten Monate überlebt, und nun ist er schon ein junger Mann. Das Leben ist voller Überraschungen. Seid guten Mutes», sagte er griesgrämig.
Ebenezer hatte seinen Vater tot aufgefunden, vor seinem Schreibtisch in sich zusammengesunken und mit jenem verzerrten Ausdruck im Gesicht, den er auch zu Lebzeiten so oft gezeigt hatte. Seine Faust war geballt gewesen, als habe er im letzten Moment am Leben festzuhalten versucht und noch nicht in den Himmel auffahren wollen, worauf er doch immer gehofft hatte. Er war vierundfünfzig Jahre alt geworden, hatte also ein für die meisten Männer gutes Alter erreicht. Und er war jählings verstorben, ohne dass er hätte lange leiden müssen.
Campion fühlte sich erleichtert, obwohl sie wusste, dass es dazu keinen Grund gab. Sie stand am Grab, starrte auf den morschen Sarg ihrer Mutter und musste schwer an sich halten, um nicht erkennen zu lassen, wie sehr sie sich freute. Sie stimmte mit ein in den dreiundzwanzigsten Psalm und hörte den Worten Herveys zu, der frohlockte, dass Bruder Matthew Slythe in die himmlische Herrlichkeit abgerufen worden sei und den Jordan überquert habe, um der Gemeinde der Heiligen beizutreten, mit der er nun auf ewig Gottes Majestät in den himmlischen Gefilden preisen würde. Campion versuchte, sich ihren Vater mit seiner düsteren Miene in den Reihen der Engel vorzustellen.
Als nach der Beisetzung das Grab zugeschaufelt wurde, nahm Treu-bis-in-den-Tod Hervey Campion beiseite. Er hatte seine Hand fest um ihren Arm geschlossen und sagte: «Ein trauriger Tag, Miss Slythe.»
«Ja.»
«Im Himmel wird es ein Wiedersehen geben.»
«Ja, Sir.»
Hervey warf einen Blick über die Schulter zurück auf die Trauergäste, die außer Hörweite waren. Das dünne, strohgelbe Haar fiel ihm in sein spitzes Gesicht. Er schluckte, und der Adamsapfel hüpfte auf und nieder. «Wie soll es nun weitergehen?»
«Ich weiß nicht.» Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen, doch Treu-bis-in-den-Tod ließ nicht locker. Seine Augen, die so fahl wie seine Haare waren, huschten hin und her.
«Trauer ist eine schwere Last, Miss Slythe.»
«Ja, Sir.»
«Sie sollte darum nicht allein getragen werden.» Seine Finger krallten sich noch fester um ihren Oberarm. Er lächelte. «Ich bin der Hirte dieser Gemeinde, Miss Slythe, und bereit, Euch auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Versteht Ihr mich?»
«Ihr tut mir weh.»
«Meine liebe Miss Slythe!» Seine Hand löste sich von ihrem Arm und schwebte über ihrer Schulter. «Vielleicht sollten wir gemeinsam den Balsam von Gilead erbitten.»
«Ich weiß, dass Ihr für uns beten werdet, Mr Hervey.»
Ihre Entgegnung war nicht, was Treu-bis-in-den-Tod hören wollte. Er malte sich ergreifende Szenen im Haus aus: Campion in tiefer Trauer, ausgestreckt auf ihrem Bett, und er daneben als ihr Tröster. Geblendet von der eigenen Vorstellung, zwinkerte er nervös mit den Augen.
Samuel Scammell kam herbei und weckte ihn aus seinen Träumereien. Er dankte ihm für seine Ansprache und fragte: «Kommt Ihr morgen zu uns, Bruder? Mr Blood wird das Testament eröffnen.» Er leckte sich die Lippen und lächelte. «Ich glaube, unser lieber verstorbener Bruder wird sich auch an Eure guten Werke erinnert haben.»
«Ja. Ja.»
Das Hauspersonal wartete auf Scammell und Campion neben dem Fuhrwerk, auf dem Slythes Leichnam zum Friedhof gebracht worden war. Ebenezer saß bereits auf seinem Pferd. Er hing schlaff im Sattel, das verkrüppelte Bein von einem eigens für ihn angefertigten Steigbügel abgestützt. Er hielt Scammells Pferd beim Zaumzeug. «Bruder Scammell?» Er reichte ihm die Zügel und sagte mit Blick auf seine
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