Das Hexenbuch von Salem
fuhr mit einer Fingerspitze über die flachen Brandzeichen. Etwas verkokeltes Holz legte sich in die Rillen ihres Fingerabdrucks.
»Bloß weil wir so etwas noch nie gesehen haben«, sagte Liz. »Denk doch mal nach. Der Kreis enthält verschiedene Formen des Namens für ›Gott‹, stimmt’s? Das Alpha und das Omega stehen für den Gedanken, dass Gott der Anfang und das Ende ist. Agla, das hast du mir gesagt, ist ein hebräisches Akronym für Gottes unaussprechlichen Namen. Und Dominus adjutor meus bedeutet: Gott der Herr, mein Beistand, oder auch: Gott, hilf mir. Namen Gottes auf Lateinisch, Hebräisch und Griechisch, allesamt verteilt um eine Bitte um Gottes Hilfe. Und was umgibt das Geschriebene?«
»Schraffuren und X-Zeichen«, sagte Connie.
»Oder Kreuze «, sagte Liz, einen Hauch von Triumph in ihrer Stimme. »Griechisch-orthodoxe Kreuze haben, wie du dich erinnerst, nicht diese rechteckige Form, sondern die Kreuzarme sind gleich lang. Sie passen in ein Quadrat hinein.«
Connies Augen weiteten sich. Während sie das Symbol betrachtete, schien es auf einmal seine dunkle, böse Anmutung zu verlieren. Unter ihrem steten Blick schienen sich die
Kreise neu anzuordnen, sich zu verschieben und mit einem ganz anderen Inhalt erfüllt zu werden.
»Verdammt!«, sagte Liz und unterbrach Connies Gedanken. »Ich muss los, sonst komme ich zu spät. Du hast doch eine Ausgabe von Lionel Chandlers Buch über den Aberglauben, oder?«
»Ich glaube schon«, sagte Connie. »Jedenfalls stand es auf meiner Lektüreliste für die Mündliche.«
»Nun, dann prüf meine Hypothese dort mal nach. Je mehr ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher kommt es mir vor, dass dieser Kreis dich beschützen soll und überhaupt nicht feindselig gemeint ist. Dadurch wissen wir zwar immer noch nicht, wer ihn dort angebracht hat, aber wenigstens hast du eine Arbeitshypothese dazu, was er bedeutet.«
Connie starrte den Kreis einen Moment lang an. »Liz«, sagte sie schließlich. »Du bist ein Genie.«
Ihre Freundin seufzte. »Sag das mal meinen Sommerschülern. Ich glaube, ich werde sie heute mit einer Ex überraschen, um sie ein bisschen leiden zu sehen.«
Connie legte den Hörer auf die Gabel. Die Haustür stand immer noch offen. Draußen in der Nachmittagssonne war Arlo unter einem dornigen Kräuterstrauch am Buddeln, sein Schwanz bebte vor Anstrengung. Sie verschränkte die Arme, schaute in den Garten hinaus und genoss das Gefühl, dass ihr Unbehagen langsam von ihr wich. Sie holte tief Luft, sog sie bis in die Rippen ein. In diesem Moment klingelte das Telefon, und Connie nahm beim ersten Läuten ab, weil sie dachte, Liz habe noch etwas vergessen, ihr zu sagen.
»Hast du nicht gesagt, du bist sowieso spät dran?«, fragte Connie ohne Vorrede.
Die Person am anderen Ende der Leitung sagte nichts und räusperte sich dann.
»Spreche ich mit Connie Goodwin?«, fragte die Stimme
einer Frau, und Connie merkte schon am Ton, dass etwas nicht stimmte.
»Ja«, sagte sie. Zuerst rasten ihre Gedanken zu Grace, doch im selben Moment wusste sie mit laserartiger Präzision, dass Grace in ihrem Haus aus Adobeziegeln war und die Hände langsam über das schmerzende Knie eines ihrer Aura-Patienten senkte. »Wer spricht da, bitte?«
Die Frau hielt inne, und irgendwo im Hintergrund kam über Lautsprecher eine Durchsage. Connie konnte nicht hören, was da gesagt wurde, doch die Frau schien zu lauschen, bevor sie fortfuhr.
»Hier ist Linda Hartley, Connie«, sagte die Frau. »Ich bin Sams Mutter.«
Connie hörte, wie sich ein Mann Linda von hinten näherte und sie ansprach. Sie musste die Hand über den Hörer gelegt haben, denn sie hörte Linda gedämpft murmeln: »Wirklich?« und dann: »Okay.« Jetzt wurde die Hand wieder weggezogen. »Er hat mich gebeten, Sie anzurufen. Er ist …« Sie schluckte hörbar.
»Wo ist er?«, fragte Connie, griff dabei bereits nach ihrer Tasche und prüfte, ob die Autoschlüssel drin waren.
Von der Fahrt ins North Shore Veterans’ Memorial Hospital erinnerte sich Connie an fast nichts mehr. Kaum war sie in der Lage, ihre Umgebung wahrzunehmen, durchschritt sie bereits eine Glastür, die sich vor ihr öffnete; dabei wusste sie nicht einmal genau, wo sie ihr Auto geparkt hatte. Sie stopfte die Autoschlüssel in ihre Jeanstasche und suchte nach einem Schild, das ihr den Weg in die Notaufnahme zeigen würde. Dann trugen ihre Füße sie bereits an den Pfeilen entlang, die sich über die eintönigen, braungrauen
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