Das Hexenbuch von Salem
weggenommen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie den Kreis aus Gesichtern über sich, die auf sie hinunterstarrten. Sie schienen alle zu einem einhelligen, vernichtenden Urteil gekommen zu sein.
»Ihr habt die Hexenzitze, Livvy Dane, und auch noch am Rande Eurer dreimal verfluchten Weiblichkeit«, verkündete eine von ihnen, und eine andere stimmte mit ein: »Gewiss habt ihr damit Teufel und Kobolde gesäugt! Gesteht!«
»Nichts dergleichen habe ich getan«, fauchte sie, und die Frauen wichen vor ihr zurück, eingeschüchtert von ihrer Heftigkeit. Deliverance kletterte vom Tisch und zog sich ihr Hemd über, weiß vor Wut. »Was seid Ihr für ein törichtes Weib, Mary Josephs!«, rief sie aus. »Wie viele Kinder habt
Ihr geholfen zur Welt zu bringen, und doch wisst Ihr nicht, wie der Herrgott die Frauen geschaffen hat! Ich bin nach seinem Ebenbild gemacht, und Ihr auch! Reicht mir eine Kerze, und ich zeige Euch, wer hier noch alles diese Hexenzitze besitzt!«
Da scharten sich die Frauen wütend um sie, die Münder weit aufgerissen zu bösen Worten und Vorwürfen, doch Deliverance hatte die Ohren vor ihnen verschlossen. Während sie sich hastig ihre Kleidung überzog und dann inmitten der keifenden, mit dem Finger auf sie zeigenden Frauen zurück ins Gefängnis gebracht wurde, war sie in Gedanken bereits bei dem morgigen Prozess. Aber mehr als an alles andere dachte sie an ihre Tochter.
EINUNDZWANZIG
Marblehead, Massachusetts
Anfang September 1991
D ie Oberfläche des Esstisches war über und über mit Zetteln und Papieren bedeckt, und in der Mitte saß Constance Goodwin, den Kopf über eine dicke, aufgeklappte Handschrift gebeugt. Das Buch war in dunkles, geöltes Leder gebunden und mit schwerem Zwirn genäht. Vom Alter waren die Seiten braungelb verfärbt und hatten den typischen trockenen Silberfischchengeruch der Spezialsammlung der Radcliffe-Bibliothek. Das Buch besaß etwa die Größe einer antiken Bibel, und ein paar gepresste, verschrumpelte Kräuter ragten aus dem Schnitt. Sie las, las schon seit ein paar Tagen. Neben ihr auf dem Tisch lag ein weiteres Buch, dessen Titel lautete: Kräuter und einheimische Pflanzen in Neuengland. Ein Führer. Auch dieses Buch war aufgeschlagen, und zwar auf einer Seite mit der Federzeichnung einer Mutterkrautpflanze. Drei kleine Karteikarten waren oberhalb der Handschrift auf dem Tisch arrangiert: eine, ganz auf Latein, die sich in ihrem Titel auf Tomaten bezog, und zwei andere. Zuverlässiges Mittel gegen Fieber und Schüttelfrost , stand quer auf der zweiten; die dritte hatte gar keinen Titel, sondern war mit einer Art Worträtsel beschrieben. Ein Füller tippte in regelmäßigen Abständen gegen Connies Schläfe, doch der Notizblock neben ihrem anderen Ellbogen war immer noch leer und in Vergessenheit geraten, weil Connie
mehr und mehr in den Text eintauchte. Sie bewegte die Lippen, während sie las.
In der anderen Hand hielt sie eine schwere Lupe mit Messinggriff, die sie vor einigen Tagen in Grannas Schreibtisch gefunden hatte und unter der die krakeligen Worte anschwollen und sich dehnten, wenn sie mit dem Vergrößerungsglas darüber hinwegglitt. Das Buch schien keinen richtigen Aufbau oder eine Anordnung zu haben, und erst recht wies es kein Inhaltsverzeichnis auf. Bisher hatte sie bereits sechs oder acht verschiedene Handschriften ausmachen können, und nicht wenige verschiedene Arten von Druckbuchstaben, wodurch viele der Einträge wild durcheinandergewürfelt und so verschachtelt wirkten, dass sie kaum voneinander zu unterscheiden waren. Manche der Eintragungen waren auf Latein; von ihrer langen Freundschaft mit Liz her konnte Connie durchaus Bruchstücke der alten Sprache verstehen, aber nicht mehr als das. Meistens jedoch handelte es sich um unterschiedliche archaische Varianten von Englisch, deren Verständnis noch durch eine abenteuerliche Rechtschreibung und veraltete Ausdrücke für Pflanzen, Substanzen und Verfahren kompliziert wurde. Einen Abschnitt mit einer Reihe von Rezepten für unterschiedliche Umschläge, mit denen schwärende Wunden, Entzündungen, Staublunge, Gehirnschlag und etwas, das sich Wechselfieber nannte, geheilt wurden, hatte sie bereits durchgearbeitet.
Einige Seiten enthielten Texte, die nach Gebeten aussahen, bei denen es sich aber wahrscheinlich um Beschwörungen oder Zauberformeln handelte – allesamt Bitten um himmlischen Beistand. Connie überraschte die offenkundige Frömmigkeit, die bislang aus den Seiten sprach,
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