Das Hexenbuch von Salem
dehnte sich in diesem Moment zu einem länglichen, schmalen Rechteck aus. Deliverance schaute seinem Weg durch die Zelle zu und wartete.
Plötzlich hörte sie auf der anderen Seite der schweren Zellentür, wo ein schmaler Gang anfing, das Rasseln eines Schlüssels, das durch das Murmeln von Frauenstimmen durchbrochen wurde. Die Geräusche kamen näher, und ihr Verdacht bestätigte sich, als ein Klirren und Klappern in der
Dunkelheit das Aufschließen der Zellentür ankündigte, welche sich nun öffnete und den Gefängniswärter erkennen ließ. Er hob ein Talglicht hoch über die Köpfe von drei oder vier bescheiden gewandeten Frauen mittleren Alters.
Eine der Frauen trat nach vorne, und Deliverance erkannte in ihr eine angesehene Hebamme aus Rumney Marsh, obwohl sie sich des Namens der Frau nicht entsinnen konnte. War es Mary gewesen? Deliverance blickte zu ihr hoch, bewegte den Kopf ein winziges Stück. Ja, es war durchaus möglich, doch schwer zu sagen bei der schummrigen Beleuchtung. Die Frauen traten auf sie zu, offenbar darum bemüht, keine Miene zu verziehen, obwohl das Beben ihrer Nasenflügel beredtes Zeugnis darüber ablegte, dass sie an dem unangenehmen Geruch in der Zelle Anstoß nahmen.
»Na kommt schon, Livvy Dane«, sagte die Frau und streckte ihr die Hand hin. »Mister Stoughton möchte, dass wir Euch noch vor Morgengrauen untersuchen.«
Während die Frau das sagte, bückte sich der Wärter hinab und schloss die Eisenmanschette an Deliverances Knöchel auf. Sie erstarrte, als seine Finger wie vertraut über den Strumpf strichen, der ihren Unterschenkel bedeckte. Kaum war der Knöchel befreit, zog sie den Fuß unter ihre Röcke, und das schmutzige Gesicht des Mannes blickte lüstern zu ihr hoch, während er sich mit den Schlüsseln zu ihren Füßen zu schaffen machte. Eine seiner Augenbrauen hob sich deutlich wahrnehmbar. Ich kann Euch helfen, hatte er vor einigen Wochen gesagt. Seid ein wenig nett zu mir, dann sehen wir, was sich machen lässt. Sie versenkte den Blick in den seinen und schickte ein klares Bild nach oben in seinen Kopf. Das Bild sagte Spinnen, und auf der Stelle ließ der Mann seinen Schlüsselbund mit einem erstickten Schrei fallen und begann, sich heftig an Armen und Kopf zu kratzen.
Deliverance ergriff die Hand der anderen Frau – jetzt erinnerte
sie sich, Mary Josephs war ihr Name – und stand auf. Sie geriet leicht ins Schwanken, als das Blut ihr in die lange untätigen Beine schoss. Gevatterin Josephs schlang einen Arm um Deliverances Leibesmitte und führte sie zu der Gruppe Frauen, die an der Tür warteten. »Wir gehen zu Gevatterin Hubbards Haus«, sagte die Hebamme, und die Gruppe führte sie den Flur des Gefängnisses entlang. Den sich kratzenden Wärter, der die Zellentür zuschloss, ließen sie zurück, und seine Flüche hallten ihnen auf dem Gang hinterher.
Obwohl es auf den Straßen von Boston schon Abend war, blendete das Zwielicht Deliverance, als wäre es das strahlend helle Licht des Mittags, und ihr wurde bewusst, wie lange sie eingesperrt gewesen war. »Morgen geht es also zu Gericht?«, fragte sie Gevatterin Josephs, als wären sie einfach zwei Frauen, die zwischen ihrer täglichen Arbeit ein kleines Schwätzchen halten.
»Ja, so ist es.« Gevatterin Josephs nickte.
»Dann sind die Mädchen also immer noch vom Wahn befallen«, bemerkte Deliverance. Die Frauen sagten nichts dazu.
Sie kamen zum Treppenaufgang eines einfachen Fachwerkhauses, ganz ähnlich dem von Deliverance in der Stadt Salem, das freilich nicht so nah an den Nachbarhäusern stand wie dieses hier. Die Frauen führten sie in die Eingangshalle, wo ein Mädchen, etwa in Mercys Alter, das Feuer in einem Kamin schürte. Als die kleine Gruppe eintrat, warf die Kleine zwei weitere Scheite ins Feuer und stieg, ohne ein Wort zu sagen, über die Leiter auf den Dachboden über ihnen. Man hat sie gewarnt, dachte Deliverance. Oder sie hat Angst vor mir. Sie schaute sich in dem Raum um und spürte, wie eine Welle der Traurigkeit in ihr aufstieg und durch ihren ganzen Körper wanderte. Es war schon Monate her, seit sie ihre Tochter
das letzte Mal gesehen hatte. Sie fragte sich, wie das Mädchen es überhaupt schaffte, das Geld für den Unterhalt seiner Mutter im Gefängnis aufzubringen.
»Gevatterin Hubbard, wir brauchen eine Kerze, bitte«, sagte Gevatterin Josephs und rollte die Blusenärmel über ihren stämmigen Armen auf. »Ich werde Euer Kleid aufschnüren müssen, Livvy. Und jetzt schnell. Bald
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