Das Hexenbuch von Salem
um eine Münze, einen Ranken Brot oder darum, im Kuhstall vor der Witterung Zuflucht nehmen zu können, und stets hatten die Dörfler es ihr gewährt, nach außen hin die christlichen Tugenden der Mildtätigkeit und des guten Willens zu Felde führend, während sie sie insgeheim doch nur zum Teufel wünschten. Sarah Good, Dorcas’ Mutter, die man mehrere Zellen entfernt untergebracht hatte, war, wenngleich jünger als Gevatterin Osborne, ebenso arm dran und hatte unter ähnlich schlimmen Bedingungen ihr Leben gefristet. Gevatterin Goods Augen waren stets ausdruckslos und starrten ins Leere, gelb unterlaufen vom Elend und von der Trunksucht. Im Dorf wurde gemunkelt, Dorcas’ Vater sei unbekannt, was auch der Grund dafür sei, dass die Gevatterin Good ihre Gefängnisstrafe abbüßte, verurteilt und in den Kerker geworfen wegen Unzucht.
Deliverance presste die Lippen aufeinander und schaute mit einer lieblosen Mischung aus Mitleid und Ekel in Gevatterin Osbornes verwüstetes Gesicht. Mitleid ob des Lebens, das zu führen sie gezwungen war, und Ekel ob der Gewissheit, dass Gevatterin Osborne Deliverances bescheidene Pflege an der gepeinigten, leidenden Dorcas solange beschönigen
würde, bis sich der Verdacht, den man in der Stadt bereits gegen sie hegte, zu einer verbrieften Tatsache erhärten würde. In all den Monaten, die sie nun im Kerker saßen, mit Ketten an die Wand gefesselt, und auf die Ankunft von Gouverneur Phips warteten, der eine neue Regierung bilden und damit auch ein legales Mandat für den Prozess mitbringen würde, hatte Gevatterin Osborne ihre wenigen hellen Momente damit verbracht, ein wässriges Auge auf Deliverance zu richten und sie zu belauern wie eine Spinne in ihrem Netz.
Im Mai war der Gouverneur aus England eingetroffen und hatte auf der Stelle per Dekret erlassen, dass in der Stadt Salem ein Anhörungsgericht gebildet werden solle, um die weitere Ausbreitung der sogenannten teuflischen Bedrohung zu verhindern und die Schuldigen vor Gericht zu stellen. Seit Monaten zeigten die besessenen kleinen Mädchen, unter ihnen auch Reverend Parris’ Tochter Betty, auf jede nur vorstellbare Person im Dorf mit Fingern. Und auch auf jede nicht vorstellbare: Einem Gerücht zufolge, das bis ins Gefängnis vorgedrungen war, hatten sie sogar einen ihrer früheren Geistlichen bezichtigt. Die Stimmung im Dorf wurde immer gereizter, als könnte jederzeit ein Funke überspringen und alles in Brand setzen, und die Gruppe der verängstigten kleinen Mädchen, die nach wie vor Opfer schwerer Krampfanfälle waren, weiteten ihre Beschuldigungen bis in angrenzende Städte aus, sogar bis Andover und Topsfield, indem sie vergeblich versuchten, die vorwurfsvollen Blicke ihrer Mitbürger von sich selbst abzulenken. Gleich zu Beginn des Juni war das Gericht zum ersten Mal zusammengetreten und hatte Bridget Bishop zum Tod durch den Strang verurteilt. Kaum eine Woche später hatte man sie vor einer großen, jubelnden Menschenmenge auf dem einsamen Hügel westlich der Stadt aufgeknüpft und zappeln lassen, bis
kein Leben mehr in ihr war. Es gab Menschen, die sagten, vielleicht würde die Sache mit diesem Gerichtsurteil an Bridget Bishop ja ein Ende haben. Dennoch saßen die angeklagten Frauen noch immer im Gefängnis und warteten.
Trotz der großen Hitze in der Zelle schlang sich Deliverance die Arme um den Körper und erschauderte. Sie verschränkte ihre knochigen Finger. »Kommt, Gevatterin Osborne«, sagte sie, und die Erschöpfung war ihrer Stimme deutlich anzuhören. »Lasst uns zusammen beten.«
Die Bettlerin schnaubte nur verächtlich, gab ein rasselndes »Pah!« von sich und zog sich in den dunklen Teil der Zelle zurück. Hier verfiel sie erneut in dumpfes, unverständliches Brummen und Murmeln, aber mitten aus ihrem bedeutungslosen Geplapper hörte Deliverance sie deutlich flüstern: »Beten hilft uns auch nicht mehr.«
Mehrere Stunden lang saß Deliverance da, die Hände unter dem Kinn gefaltet, und bewegte die Lippen im stillen Gebet. Die kleine Dorcas schlief nach wie vor, ihre zarten Glieder bebten im Schlaf, manchmal schleifte die Kette an ihrem Knöchel kratzend über den Boden, während Gevatterin Osborne in ihrer Ecke kauerte und stets aufs Neue das Stroh auf ihrem Schoß ordnete. Deliverance staunte nach wie vor darüber, wie langsam im Gefängnis die Zeit verging. Der winzige Fleck Sonnenlicht wanderte ganz gemächlich über den modernden Boden, machte an der gegenüberliegenden Wand einen Knick und
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