Das Hexenbuch von Salem
ein und trat in das wartende Haus.
In dem Haus hing genau die Art von Luft, die Connie beim Öffnen einer versiegelten Schiffstruhe erwartet hätte, die man vom Grund des Meeres geborgen hat: holzig, salzig, abgestanden. Der größte Teil des nachmittäglichen Sonnenlichts wurde durch das dichte, verschlungene Blattwerk vor den Fenstern abgehalten. Connie blieb stehen, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Langsam trat die Inneneinrichtung des Hauses aus der Dunkelheit zum Vorschein – das perfekte Abbild eines Hauses aus der frühen Siedlerzeit vor dem achtzehnten Jahrhundert, mit allerlei Möbelstücken aus späteren Epochen, die von nachfolgenden Generationen im Lauf der Jahrhunderte hinzugefügt worden waren. Bloß dass dieses Haus hier kein Abbild war, sondern ein Original.
»Mein Gott«, hauchte sie ungläubig. »Wie lange steht das schon hier?« Das stille Innere des Hauses fühlte sich so zeitlos an, so unberührt von der äußeren Welt, dass es einem unwirklich vorkam.
Von der Eingangstür aus gelangte man in eine winzige Diele gegenüber einer hölzernen Wendeltreppe, so schmal und steil, dass es kaum mehr war als eine Leiter. So wie das Haus ursprünglich konzipiert war, hatte sich im siebzehnten
Jahrhundert der Großteil des Lebens – das Essen, Kochen, Schlafen, Nähen, Beten – wohl hier im Erdgeschoss abgespielt, während man den Dachboden darüber zur Lagerung und für zusätzliche Schlafgelegenheiten nutzte. Jede Stufe der Treppe bestand aus polierter Ipswich-Kiefer und hatte in der Mitte, wo Generationen von Menschen hinauf- und hinuntergestiegen waren, tiefe Mulden. Ansonsten stand in der Diele ein wackeliger Queen-Anne-Tisch, der unter der Last der ungeöffneten Post vieler Monate, gelb und brüchig, ächzte. Über dem Tisch hing ein schlichter klassizistischer Spiegel, das Glas durch anhaftenden Staub und Spinnweben getrübt, der vergoldete Rahmen verblichen und abblätternd. Eine knotige, längst eingegangene Pflanze stand in der Ecke unter der Treppe in einem Topf aus chinesischem Porzellan, durch dessen Mitte sich ein trockener, brauner Riss zog. Mitten im Dielenboden des Flurs gab es eine Stelle, wo das Holz gefault war, und Connie erschauderte, als sie einen Pilz sah, der seinen Kopf durch die Bretter nach oben schob. Im selben Moment zuckte etwas am Rande ihres Gesichtsfeldes, sie erschrak und sah gerade noch die Schwanzspitze einer Gartenschlange, die hinter der Topfpflanze verschwand.
Zur Linken der Diele befand sich ein Raum, bei dem es sich offenbar um ein kleines Wohnzimmer handelte; schemenhaft waren einige Bücherregale mit ledergebundenen Folianten sowie ein paar nicht zueinander passende Sessel rund um einen flachen Kamin zu erkennen. Die fadenscheinigen Polster mit der Gobelinstickerei ließen auf Feuchtigkeit, Moder und Mäusebefall schließen und gaben einen muffigen Geruch von sich. Ein wuchtiger Chippendale-Sekretär thronte in der Ecke und schien mit seinen Klauenfüßen den Boden fest im Griff zu haben. Weitere, zu Skeletten vertrocknete Pflanzen hingen reglos in den Fenstern. Die Dielenbretter, einige davon über einen halben Meter
breit, waren aus dem gleichen schweren Kiefernholz wie das Treppenhaus; sie erstreckten sich über die gesamte Länge des Hauses und waren mit Vierkantnägeln gespickt.
Zur Rechten des Eingangs stieß Connie auf ein spartanisches Esszimmer, das mit einem weiteren Queen-Anne-Tisch sowie mehreren Mahagonistühlen mit geschnitztem Rücken ausgestattet war – Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, schätzte sie, und, wie aus der Form der Rückenlehne zu schließen war, in Salem gefertigt. Offenbar war der Raum nie als Esszimmer genutzt worden, nicht einmal, als Granna noch am Leben war; in jeder freien Ecke stapelten sich Zeitungen, standen ein oder zwei Truhen, einige schwärzliche, versiegelte Einweckgläser. Auch ein Kamin befand sich im Esszimmer, doch der hier war offenbar älter – breit und tief, reich ausgestattet mit Schürhaken und Töpfen verschiedener Größe sowie einer bienenkorbförmigen Mulde, die zum Brotbacken benutzt wurde. Connie vermutete, dass das Esszimmer ursprünglich als »Saal« gedient hatte – so hatte man früher den größten Aufenthaltsraum eines Herrenhauses genannt, der ebenso für repräsentative Zwecke als auch zum Kochen fungierte und das funktionelle Herz des Hauses war. Links neben dem Kamin waren Regale in die Wand eingelassen, mit Tellern, Bechern und Flaschen vollgestopft, die
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