Das Hexenbuch von Salem
Gemüsepflanzen. Großfingrige Blätter, so ausladend wie Speiseteller, spendeten den noch kleinen Früchten verschiedener Kürbissorten Schatten. Zur Rechten, in einer breiten Lücke in dem ansonsten dichten Geflecht aus Ranken, schmiegte sich ein hoher, verwachsener Strauch an die gegenüberliegende Ecke des
Hauses; schwere Früchte, so groß wie Connies Faust, baumelten unter den Blättern. Connie schaute genauer hin und bemerkte zu ihrer Überraschung, dass es sich um Tomaten handelte. Doch keine Tomaten wie aus dem Supermarkt – diese hier waren kunterbunt, die einen fast lila, die anderen grün gestreift, wieder andere leuchtend gelb, manche kugelrund, manche mit dicken Rippen strukturiert. Der Strunk dieser Tomatenpflanzen war so fest und breit wie ein Baumstamm, als würde diese Tomatenpflanze als Einzige auf der ganzen Welt nicht am Ende jeden Sommers sterben. Arlo buddelte unter einer ihrer schattenspendenden Blätter.
Liz tauchte neben Connie auf, ihre Schritte waren auf den bemoosten Steinplatten des Weges kaum zu hören gewesen. »Dieser Garten ist verrückt. Schau dir diese Tomaten an!« rief sie aus. »Die sind gigantisch!« Liz unterbrach sich, weil sie spürte, wie still Connie geworden war. Sie blickte zur Seite und berührte ihre Freundin an der Schulter. »Alles in Ordnung mit dir?«
Connie wandte sich Liz zu, immer noch aus dem Gleichgewicht gebracht und benommen durch ihren lebhaften Tagtraum. Das Gesicht ihrer Freundin leuchtete vor Freude über ihre Entdeckung, und Connie zögerte, ob sie sie an ihrer eigenen, eher nachdenklichen Stimmung teilhaben lassen wollte. »Mir geht’s gut«, sagte sie und brachte für Liz sogar ein Lächeln zu Stande. »Nur ein bisschen müde. Siehst du die Endivien da? Heute Abend können wir Salat machen!«
Grace hatte erwähnt, dass das Haus alt war, aber sie hatte nie erwähnt, wie alt : Es war praktisch vorsintflutlich und gewiss noch mit den gleichen Handwerkstechniken erbaut, die aus dem spätmittelalterlichen England herübergekommen waren. Die Fenster waren klein, und ihre rautenförmigen Scheiben wurden mit Bleirahmen zusammengehalten. Connies Augen weiteten sich vor Verwunderung, als sie an der
Fassade emporschaute, auf das vermutlich noch nie der Blick eines Denkmalschützers gefallen war. Das stille Haus starrte zu ihr zurück, verwittert und wie aus großer Ferne.
Sie schob den Vorhang aus Glyzinienblüten beiseite und fuhr mit den Fingerspitzen über die Tür. Wahrscheinlich war sie einmal weiß gestrichen gewesen, doch Moder und Witterung hatten ihr eine dunkelgrüne Patina verliehen. Connie versuchte sich vorzustellen, wie ihre Mutter als kleines Kind hier gelebt hatte, doch irgendetwas irritierte an dem Bild, etwas passte nicht zusammen. Grace und Sophia und Lemuel, ihr Großvater, ein schweigsamer Mann aus Marblehead, den Grace nie erwähnt hatte – sie alle erschienen ihr wie Seifenblasen, die in dem Haus aneinander vorbeischwebten, jeder für sich, und sich nur ab und zu begegneten. Grace war einfach zu lebensfroh, zu lebhaft, um hierherzugehören.
Vielleicht war ja das der Grund, warum sie weggegangen war.
Der Garten und das Haus schienen so sehr zu jener verlassenen Welt zu gehören, dass sich jeder Mensch hier, ob nun lebensfroh oder nicht, wie ein Eindringling fühlen musste. Connie kramte in ihrer Jeanshosentasche nach dem Schlüssel, den ihre Mutter ihr mit der Post geschickt hatte, und wischte mit dem Daumen den verkrusteten Schmutz aus dem Schlüsselloch. Der Schlüssel glitt hinein und ließ sich nach kurzem Widerstand auch drehen, wobei er das schleifende Quietschen von Metall von sich gab, das lange geruht hat. Mit einem sanften Druck ihrer Schulter stieß Connie die Tür auf.
Zögernd gab der Türstock nach, eine dicke Staubwolke waberte hoch. Connie hustete und würgte, wedelte mit den Händen, um den schmutzigen Nebel vor ihrem Gesicht zu vertreiben. Als die Tür mit einem Ruck nach innen aufging, hörte sie direkt über ihrem Kopf ein metallisches Ploppen,
und etwas Kleines, Zartes fiel klirrend auf den Steinboden vor ihr.
Oben an den Türstock genagelt, aber durch die Glyzinie fast vollständig verborgen, entdeckte Connie ein Hufeisen, so sehr vom Rost zerfressen, dass es nur noch der Schatten seiner selbst war. Einer der kantigen Hufnägel, mit denen es an dem morschen Holz befestigt war, hatte sich gelöst, sodass das Hufeisen in einem gefährlichen Winkel baumelte. Connie steckte den winzigen, handgeschmiedeten Nagel
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