Das Hexenbuch von Salem
ihre Augen weiteten sich. Während sie dabei zusah, wie die Sonnenstrahlen auf der Oberfläche der Blüten tanzten, lösten sich langsam ihre Gedanken, die Konturen der Wirklichkeit verschwammen. Plötzlich entstand das Bild eines älteren Mannes in schmutziger Arbeitskleidung vor ihrem inneren Auge, der, tief gebeugt unter der
Last eines Segeltuchbeutels voller Brennholz und Spänen, durch die Schatten auf sie zukam. Lemuel?, rief eine Stimme, die nur Connie hören konnte. Komme schon, Sophier!, antwortete das Bild in ihrer Phantasie und entschwand, während sich ihr Tagtraum langsam in Luft auflöste. Connie kam erst wieder zu sich, als Liz ihr eine Frage stellte.
Das Bild hatte sich beunruhigend unmittelbar und greifbar angefühlt. Sie hob eine Hand, um sich die Schläfe zu massieren, in der es von einem Moment zum nächsten angefangen hatte, sanft zu pochen. Liz beobachtete sie, offenbar auf eine Antwort wartend, aber Connie hatte keine Ahnung, was sie überhaupt gefragt hatte. »Tut mir leid«, sagte sie verwirrt. »Ich war gerade ein bisschen weggetreten.«
»Ich habe dich gefragt, wo eigentlich Arlo ist«, wiederholte Liz.
Der Schmerz in Connies Kopf ebbte ab. Sie blickte sich um, doch der Hund war ihnen nicht gefolgt. »Das ist sonderbar«, meinte sie.
Sie ging allein auf dem Kiespfad zurück in Richtung Allee. Als sie aus dem Wäldchen trat, sah sie, dass der Hund dasaß und wartete, immer noch das undurchdringliche Dickicht gegenüber dem Auto im Visier.
»He, Kleiner«, sagte sie und ging neben dem Tier in die Hocke. »Was gibt’s denn da?« Er schaute zu ihr empor, dann wieder ins Dickicht. »Ist es ein Eichhörnchen?« Connie wandte das Gesicht dem Punkt in dem dornigen Gestrüpp zu, den der Hund nicht aus den Augen ließ, und schnappte überrascht nach Luft. Denn dort, hinter den verschlungenen Brombeerzweigen, waren deutlich die Umrisse eines verwitterten Eisentors zu erkennen.
Bis Liz nachgeeilt kam, hatte Connie bereits eine beachtliche Menge toter Zweige und wuchernden Unkrauts beseitigt.
Kaum zeigte sich eine Öffnung zwischen zwei der verrosteten Gitterstäbe, schlüpfte Arlo hindurch und verschwand im Gebüsch.
Liz war völlig außer Atem von dem, was sie gerade gesehen hatte. »Connie! Vielleicht haben wir ja das Haus gefunden!«
»Genau! Arlo hat das Tor entdeckt«, ächzte Connie, während sie einen weiteren Arm voll Gestrüpp beiseiteschaffte.
»Nein, schau mal«, sagte Liz und tippte Connie auf die Schulter. Connie stand auf und wischte sich die schmutzigen Hände am Hinterteil ihrer Jeans ab. Liz zeigte nach oben.
Connie trat auf die Allee hinaus, zog das Flanellhemd enger, das sie sich um die Taille geknotet hatte, und reckte den Hals. Als sie mit dem Blick Liz’ ausgestrecktem Finger folgte, entdeckte sie einen großen Holunderbaum, von Kletterpflanzen umrankt, immer höher und höher, bis Connie ganz oben über dem Dickicht den unverwechselbaren Umriss eines mit Zedernholz gedeckten Schindeldaches erkannte, das aus den Blättern und Zweigen hervorragte. In der Mitte des Daches war der gewaltige Schutthaufen eines eingestürzten, gemauerten Kamins zu sehen. Sie schnappte nach Luft.
»Ich kann es nicht glauben«, flüsterte sie.
»Ich hab dir ja gesagt, das hier ist die Milk Street«, triumphierte Liz.
Connie hob ironisch eine Augenbraue. »Man würde es wirklich kaum merken, dass da drinnen ein Haus steht«, bemerkte sie, fuhr sich mit einer erdverschmierten Hand durchs Haar und ließ den Blick forschend über das Dickicht schweifen. Jetzt, da sie wusste, wonach sie suchen musste, hatte sie den Eindruck, auch die schwachen Umrisse eines Eisenzaunes unter dem dichten Gestrüpp ausmachen zu können. Und weiter hinten inmitten des verschlungenen Blattwerks schienen sich nun auch vage mehrere Fensterbänke abzuzeichnen.
»Na ja, du hast ja gesagt, seit Sophias Tod sei niemand mehr hier gewesen«, sagte Liz.
»Ja, aber das hier sieht so aus, als stünde es schon viel länger verlassen da als nur zwanzig Jahre«, erwiderte Connie.
Die beiden Freundinnen standen schweigend da, die Arme verschränkt, und betrachteten das Haus, das in all die Schichten aus Vegetation und Vernachlässigung gehüllt war. Schließlich brach Liz das Schweigen.
»Also«, sagte sie. »Dann helfe ich dir jetzt mal dabei, das Tor frei zu legen.«
Die Kletterpflanzen und der Efeu waren rasch beseitigt, und innerhalb einer halben Stunde hatten sie einen lockeren Haufen Zweige und Wurzeln auf einer
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