Das Hexenkreuz
hundertfünzig Meilen unwegsame Gebirgspfade,
weil du die öffentlichen Wege meiden musst. Du wirst es niemals bis nach Rom
schaffen. Vorher riskierst du zigmal vergewaltigt und ausgeraubt zu werden!
Dafür soll ich meiner Mutter ihre sauer verdienten Dukaten stehlen, damit du
dich ins Verderben stürzen kannst? Nein, meine Freundin, diesmal kannst du
nicht auf mich zählen.“ Serafina wirkte ernsthaft verärgert.
„Meiner
Treu, dass du immer alles gleich so schwarz sehen musst“, konterte Emilia
unerschrocken. „Wo bleibt deine Abenteuerlust? Natürlich werde ich nicht als
Frau reisen, sondern mich als junger Edelmann verkleiden. Als Emanuele dem
Kolleg beigetreten ist, hat er seine Ausstattung zurückgelassen. Wer sollte
Verdacht schöpfen, dass sich darunter eine Frau verbirgt? Außerdem kann ich
mich sehr gut selbst meiner Haut erwehren. Mit dem Degen macht mir so schnell
niemand etwas vor.“ Emilia schnappte sich den Kochlöffel und focht wild gegen
einen imaginären Gegner an, während sie in bester Shakespearescher´ Manier
schrie: „Ha, nimm das Verruchter, und stirb!“
Entgegen ihrem Willen musste Serafina lachen. „Du bist
wirklich das unmöglichste Geschöpf unter Gottes weitem Himmel. Was soll ich nur
mit dir machen“, fügte sie seufzend hinzu.
„Mir
helfen?“, erwiderte Emilia plötzlich verzagt und drehte den Kochlöffel zwischen
ihren Fingern.
So viel
unschuldige Treuherzigkeit lag in ihrem Blick, dass Serafina Mühe hatte, ernst
zu bleiben: „Wie sieht deine Alternative aus? Ich meine, wenn ich es ablehnte,
meine Mutter zu bestehlen? Sieh es ein, Emilia. Ohne einen Scudo ist dein
Vorhaben nicht zu verwirklichen. Du musst schließlich unterwegs auch etwas
essen.“
„Das wenige,
das ich zum Essen brauche, kann ich mir selbst jagen“, erwiderte Emilia stolz.
Dann änderte sich ihr Ton: „Versteh doch, Serafina, die Gefahren sind mir
völlig egal. Ich muss es zumindest versuchen. Falls es mein Schicksal sein
sollte unterwegs zu sterben, dann ist das eben so. Das ist mir allemal lieber,
als mich wie ein Wechsel für die Schulden meines Bruders Pieros eintauschen zu
lassen. Das ist würdelos.“ Hoch aufgerichtet stand Emilia vor ihrer Freundin.
Alles an ihrer Haltung drückte Entschlossenheit aus. Serafina begriff, dass
weder Worte noch Argumente ihre Freundin von ihrem verrückten Vorhaben
abbringen würden. Entgegen ihrem Willen regte sich in ihr Bewunderung. Die
ungezähmte Kraft, die von der kleinen biegsamen Gestalt ihrer Freundin ausging,
teilte sich ihr mit. Ja, dachte sie, diesem vitalen Geschöpf war alles
zuzutrauen. Ihr zuliebe hatte sie auch erstmals bewusst ihre Gabe zur Anwendung
gebracht. Serafina hatte, weit mehr als ihre Mutter Elvira, die Gabe des
zweiten Gesichts von ihrer Großmutter Serafina der Älteren geerbt. Sie war am Todestag
ihrer Großmutter, der auf den Geburtstag von Emilia und Emanuele fiel, kaum zwei
Jahre alt gewesen; sie konnte deshalb keine Erinnerung an sie bewahrt haben.
Trotzdem war ihr die verstorbene Großmutter vertraut: Sie erschien ihr seit
ihrem siebten Geburtstag in ihren Träumen. Ihre Mutter Elvira hatte es gewusst,
obwohl Serafina anfangs versucht hatte, es vor ihr zu verheimlichen. Die
einzige Person, die sie eingeweiht hatte, war Emilia gewesen. Als kleines
Mädchen hatte Serafina ihr Anderssein mit Stolz empfunden. Mit den Jahren hatte
sich ihre Einstellung gewandelt, denn sie hatte ihre Begabung schließlich als
Fluch begriffen. Wenn es in ihrer Macht gestanden hätte, dann hätte sie sie wie
eine alte Haut abgestreift. Frauen ihrer Art hatten stets den Unbill der Kirche
auf sich gezogen und Tod und Unglück erfahren. Serafina hatte hartnäckig gegen
ihre Bestimmung angekämpft, doch ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass die
Visionen stets kamen, wenn sie es wollten, nicht wenn man selbst es
wollte. Nur zu gut verstand sie die Seelenqualen ihrer Tochter - spiegelten
sich doch ihre eigenen und die der Frauen ihrer Familie wider. Aus diesem Grund
hatte sie ihr ein kleines silbernes Hexenkreuz geschenkt. Das Kreuz sollte ihre
Tochter so lange vor weiteren Visionen schützen, bis sie sich selbst stark
genug fühlte, diese zu empfangen.
Serafina
tastete nun nach der Kette mit dem kleinen Kreuz um ihren Hals. Schon vor
einiger Zeit hatte sie die Erkenntnis gewonnen, dass es Emilia bestimmt war, Santo
Stefano zu verlassen. Ihr eigener Entschluss stand fest. „Also gut“, sagte sie.
„Ich werde dir helfen, Emilia. Aber nur unter einer
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