Das Hexenkreuz
Ordensgründer Ignatius von Loyola einst ins
Leben gerufen hatte. Falls überhaupt möglich, nahm das Gewimmel in den engen
Gassen des Borgos weiter zu. Sänften, Reiter, Klerus, Händler, Bedienstete und
einfaches Volk trieben in den schmalen Straßen an ihnen vorbei. Emilia und
Serafina reckten die Köpfe, aber noch blieb ihnen der Anblick der heiligsten
Monumente des Kirchenstaates verwehrt. Einzig die von der Mittagssonne
vergoldete Kuppel des mächtigen Petersdoms überragte die Szenerie im
Hintergrund und kündete ihnen von der Glorie Gottes.
Aus Kalkül
führte keine schnurgerade Prachtstraße auf die vor über einhundert Jahren von
Bernini gestaltete Piazza San Pietro. Der aus den engen Gassen des Borgos
tretende Besucher sollte sich unvermittelt vor einem weiten Raum wiederfinden,
der ihn mit der dramatischen Wirkung einer Theaterkulisse empfing. Der
Petersplatz besaß die Form einer Ellipse und wurde auf zwei Seiten durch
beeindruckende Säulengänge umschlossen. Laut Bernini sollten sie die
ausgebreiteten Arme der Mutter Kirche symbolisieren, die alle Christen in ihrem
Kreis willkommen hieß.
Aber an
diesem Tag sollte den beiden jungen Frauen der imposante Anblick der Piazza San
Pietro nicht vergönnt sein. Sie erhaschten eben noch die majestätischen, in der
Sonne flimmernden Umrisse des Apostolischen Palastes - Residenz des neu
gewählten Papstes Clemens XIV. -, als etwas völlig Unerwartetes geschah: Eine
Stimme rief Emilia beim Namen - sie schien aus einem dunklen Torbogen zu ihrer
Rechten zu kommen. „Emilia! Bleib stehen, aber sieh keinesfalls zu mir her. Tu
so, als hätte Ambra ein Problem mit ihrem Huf."
Emilias Herz
verfehlte einen Takt. Nicht, weil dieser Jemand den Namen ihrer Stute kannte,
sondern weil die Stimme zu ihrem Bruder Emanuele gehörte! Allein die
ungewöhnliche Art und Weise ihrer Begegnung reichte aus, dass Emilia wie eingefroren
verharrte. "Was ist los, Emilia? Warum bleibst du stehen?“, erkundigte
sich Serafina hinter ihr. Seit sie die Stadttore Roms passiert hatten, war Serafina
von einer wachsenden Unruhe ergriffen worden. Die leise Stimme sprach erneut.
Auch Serafina hörte sie jetzt und der vertraute Klang ließ sie herumfahren.
"Still
und hört mir zu. Kehrt ohne erkennbare Eile um und begebt euch unmittelbar zur
Piazza di Popolo. Hinter den Zwillingskirchen findet ihr zur Rechten die
Trattoria "Il Piedegrande." Der Wirt ist ein Freund. Sagt ihm, dass
ich euch schicke. Ich werde später zu euch stoßen. Geht jetzt und seht euch
nicht um."
Beinahe
mechanisch reagierten die jungen Frauen auf seine Anweisung. Die Strecke bis
zur besagten Trattoria legten sie schweigend zurück. Sie konnten sich Emanueles
ungewöhnliches Verhalten nicht erklären. Emilia wirkte geradezu verstört. Sie
hatte die Tore Roms wie einen rettenden Anker empfunden, und die Vorfreude, Emanuele
wiederzusehen, hatte ihre Sorgen erstickt. Nun kehrten sie übermächtig zurück.
Ein zweites
Mal überquerten sie den Tiber, dessen graue verschmutzte Fluten sie bedauerten.
Kurz darauf langten sie an der Piazza di Popolo an. Drei Hauptstraßen Roms
nahmen hier seit dem 16. Jahrhundert ihren Anfang: Die Via del Corso, die Via
del Babuino und die Via di Ripetta – der Tridente, Dreizack genannt.
Doch es
waren nicht die beiden, den südlichen Platz begrenzenden Zwillingskirchen, die
die Aufmerksamkeit der beiden jungen Frauen erregten: Mitten auf dem Platz
ragte ein riesiger ägyptischer Obelisk in die Höhe. Sein Vorhandensein
verblüffte sie. Der Obelisk strahlte etwas Fremdes und Archaisches aus. Seht
her, schien er zu rufen , ich bin das stolze Symbol aus einem Zeitalter,
bevor das Christentum erwachte! Ich weise Euch den Weg zum Himmel! Da aber
das Christentum bekanntlich alle Macht für sich in Anspruch nahm, hatte man dem
heidnischen Symbol längst seinen Stempel aufgedrückt: Auf seiner Spitze prangte
ein Kreuz.
Emilia und
Serafina fanden die Herberge dort, wo Emanuele sie ihnen beschrieben hatte. Hinter
ihr erhob sich der grüne Pincio Hügel mit dem bereits legendären Palazzo
Borghese, mit seinen prachtvollen Schätzen und dem weitläufigen Park.
Emilia
betrat die Osteria alleine. Serafina zog es vor, bei den Tieren zu wachen. Lautes
Stimmengewirr empfing sie. Am anderen Ende des Raumes entdeckte Emilia eine
rotwangige Dienstmagd. Gemächlich polierte sie Zinnbecher hinter der Schänke.
Sie näherte sich ihr. Die Magd hielt in ihrer Tätigkeit inne und sah dem
Neuankömmling aufmerksam
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