Das Hexenmal: Roman (German Edition)
zog fröstelnd ihr Betttuch bis zum Kinn, als sie an den Schrei dachte, den Franziska in dem Augenblick ausstieß, als man sie in das finstere, kaum sechs mal sechs Schritte große Verlies mit einem Seil hinunterlassen wollte. Weinend und zitternd hatte sich das junge Mädchen an den Pfarrer geklammert. Auch Lambrecht und die von Wintzingerode schauderten, als sie in das tiefe finstere Loch im Boden starrten.
Hedwig hatte erwartet, dass Lambrecht ihren Mann bitten würde, das Mädchen vor dem Verlies zu bewahren und es im Steinkerker, in dem sie nun standen und in dem sich die Öffnung zum Verlies befand, einsperren zu lassen. Doch anscheinend getraute der Pfarrer sich nicht, Adolph Ernst um diesen weiteren Akt der Freundschaft zu bitten. Die Freifrau ahnte, wie viel Kraft es gekostet haben mochte, ihren Mann zu überzeugen, Franziska auf Burg Bodenstein Schutz zu gewähren. Sie vermutete, dass Lambrecht befürchtete, der Freiherr könne einen Rückzieher machen, würde er einen weiteren Wunsch äußern.
Mit zittrigen Händen hatte der Pfarrer dem weinenden Mädchen übers Haar gestreichelt und versucht, es mit leisen Worten zu beruhigen. Hedwig erinnerte sich, dass bis zu diesem Tag nur ein Gefangener je in die Tiefe des Verlieses hinabgelassen worden war – Arnold Geilhaus – und die Freifrau entschied, dass es auch so bleiben sollte. Sie sah sich den halbmondförmigen Raum, in dem sie sich befanden, genauer an.
Das Fenster neben der Eisentür war klein und eng. Niemand konnte sich hindurchzwängen, aber es spendete frische Luft, und auch Tageslicht fand so seinen Weg in den Raum. Die
schwere Verliestür würde jeden Fluchtversuch vereiteln. Kein Mensch, der nicht in Besitz des Schlüssels war, käme aus diesem steinernen Gefängnis heraus. So nahm Hedwig ihren Gatten zur Seite und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Freiherr sah seine Frau fragend an. Sie nickte stumm. Sich räuspernd, gab er den Befehl, das Mädchen von dem Seil, das um seine Hüfte geknotet war, zu befreien und ein Brett über die Öffnung zum Verlies zu legen. Als er noch frisches Stroh verlangte und es in der Zelle ausbreiten ließ, dankte Lambrecht seinem Freund wortlos mit einem Blick. Beim Verlassen der Zelle flüsterte Adolph Ernst dem Pfarrer zu: »Ich hoffe, ich werde es nicht bereuen!«
Das wünschte und hoffte auch die Freifrau. Nun gähnte sie herzhaft, streckte sich und versuchte, sich zu entspannen. Zwar nickte sie immer wieder ein, aber nur für kurze Zeit, dann schreckte sie wieder auf. Der Mond, den sie durch das kleine Fenster in der Wand neben dem Bett sehen konnte, war ein Stück gewandert. Bald würde sie den neuen Tag begrüßen können. Zärtlich griff sie neben sich ins Bett und stellte verwundert fest, dass ihr Mann nicht neben ihr lag. Besorgt setzte sie sich auf und lauschte in die Dunkelheit. Nichts Ungewöhnliches oder Besorgniserregendes war zu hören.
Hedwig zog sich einen Umhang über das Nachtgewand und ging barfuß über den unbeleuchteten Gang in den Wohnsalon. Wollige Wärme empfing sie, da im Kamin ein dickes Holzscheit brannte. Alle Wandlichter waren gelöscht. Nur der fünfarmige Silberleuchter auf dem Tisch brannte, wo ihr Gatte über Papiere gebeugt saß. Er hatte den Kopf in beide Hände gestützt und studierte anscheinend ein Schriftstück. Er war so vertieft, dass er das Eintreten seiner Frau nicht bemerkt hatte. Erst als sie neben ihm stand, schaute er mit geröteten, müden Augen zu ihr auf.
»Der Morgen graut in wenigen Stunden. Willst du nicht endlich zu Bett gehen?«, fragte sie. Lächelnd nahm er ihre Hand
und zog sie zu sich auf den Schoß. Seufzend vergrub er sein Gesicht in ihren Haaren. Hedwig gab ihm einen Kuss und schaute dann auf die Schriftstücke auf dem Tisch. Eines auf gräulichem und eines auf sandfarbenem Papier lagen nebeneinander. In verschnörkelten, großen Buchstaben waren einige Sätze auf das graue Papier geschrieben, das die Überschrift »Anordnung« trug und auf das Jahr 1337 datiert war.
Das sandfarbene Dokument war quer mit vielen kleinen Wörtern beschrieben und hatte keine Überschrift. Allerdings waren am unteren Blattrand an einem hellen Band vier jeweils unterschiedliche Wachssiegel angebracht.
Hedwig kannte diese Schriftstücke nicht und sah fragend Adolph Ernst an. Mit einem schelmischen Glitzern in den Augen sagte er: »Auch du weißt und kennst nicht alles, meine Liebe!«
Als er ihre gespielte Entrüstung sah, lachte er laut auf, und seine
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