Das Hexenmal: Roman (German Edition)
schien er verstanden zu haben, dass sie nicht nachgeben würde, und ließ sie in Ruhe.
Selbst zum Essen blieb Annerose auf ihrem Zimmer, denn ihr Sohn Johann versorgte sie. Von ihrer Tochter hörte sie in dieser Zeit nichts – jedoch hatte sie es von Karoline auch nicht anders erwartet.
In den ersten Tagen tat Annerose das, wofür sie sonst die wenigste Zeit hatte. Sie schlief.
Ausgeruht ordnete sie am dritten Tag gerade die Wäschetruhe, als Johann anklopfte. Annerose ließ ihren Sohn herein, und er erzählte ihr, dass Franziska ihn dringend sehen wollte. Stumm umarmte die Mutter ihren Sohn. Schon am nächsten Tag wollte der Junge sich heimlich auf den Weg nach Burg Bodenstein machen, wie er der Mutter anvertraute.
»Ach, zu den Wintzingerode hat Lutz das Mädchen gebracht! Dort wird Casper sie nie vermuten. Das hat mein Bruder schlau eingefädelt, da sie nun unter dem Schutz des Freiherrn steht. Geh, mein Sohn und lass dich nicht aufhalten. Vor allem sei vorsichtig, dass dir niemand folgt.«
Johann versprach, am Abend des gleichen Tages wieder zurück zu sein, damit der Bauer keinen Verdacht schöpfte.
Annerose hörte schon vor Tagesanbruch, wie die mächtige Eingangstür ins Schloss fiel. Sie betete, dass ihrem Sohn nichts geschehen möge. Da sie angestrengt in die Stille lauschte, glaubte sie sogar, das Schnauben des Pferds zu hören. Zufrieden schlummerte Annerose wieder ein.
Es war schon hell, als sie ausgeruht erwachte. Zum ersten Mal schmerzte der Kopf nicht, und auch die Spannung im Gesicht hatte nachgelassen. Ein Blick in den kleinen Handspiegel zeigte ihr, dass die Schwellung zurückgegangen war und ihr Gesicht sich gelb verfärbt hatte. An diesem Morgen verspürte sie erstmals wieder regen Appetit und freute sich auf das Frühstück,
als ihr einfiel, dass Johann nicht da war und niemand ihr etwas zu essen bringen würde. Sie aß ein Stück Brot und einen Apfel, der vom Abend zuvor übrig geblieben war. Dann sah sie sich im Zimmer um.
Ihre Wäschetruhe hatte sie bereits geordnet, und weil es sonst nichts mehr zu tun gab, fiel ihr Blick auf die schwere Truhe ihres Mannes. Ihre Hände glitten über die Schnitzereien, die Gesinde bei der Heuernte darstellten.
Nie zuvor hatte Annerose die Truhe geöffnet, hatte es nicht einmal in Erwägung gezogen, da Bonner sie stets mit einem großen Eisenschlüssel verschlossen hielt. Doch je länger sie die Truhe anstarrte, umso neugieriger wurde sie.
Annerose wusste, dass in der Holzkiste teures Leinen verstaut war, ebenso ein wertvoller Gürtel, den ihr Mann beim Wettschießen gewonnen hatte. Die Truhe enthielt außerdem mehrere Schriftstücke, deren Inhalt sie nicht kannte. Ohne weiter zu überlegen, nahm Annerose das stumpfe Schälmesser und versuchte, das Schloss zu öffnen. Doch das kleine Messer brach entzwei und das Schloss öffnete sich nicht. Ratlos starrte sie weiter auf die Holztruhe, als könne die Macht ihrer Gedanken sie öffnen. Dann ließ sie ihren Blick suchend umherschweifen, ob sich nicht ein anderer Gegenstand fände, mit dem das Schloss aufgebrochen werden konnte.
Als sie nichts fand, rüttelte sie ungeduldig am Deckel, als der sich plötzlich anheben ließ. Ungläubig öffnete sie das Möbelstück. Ihr Mann schien vergessen zu haben, die Truhe abzuschließen. Rasch legte Annerose das Leinen zur Seite und nahm den wertvollen Gürtel heraus. Feinste Hammerarbeiten und kleine Halbedelsteine zierten die wuchtige Schnalle, die ihr viel zu protzig erschien. Doch sie wusste, dass Bonner den Gürtel wie einen Schatz hütete. Annerose konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als er das Prachtstück mit stolzgeschwellter Brust entgegengenommen hatte.
›Pah, Schützenkönig‹, dachte sie verächtlich.
Als sie weiter in der Kiste kramte, fand sie ein kleines Jagdmesser, das Bonner von seinem Vater geerbt hatte, einen Siegelring, der in einem Lederbeutel verstaut war, und allerlei anderen Tand, der für sie bedeutungslos, doch für ihren Mann anscheinend wichtig war.
Unten auf dem Truhenboden lag ein heller Lederlappen. Unachtsam nahm sie ihn ebenfalls heraus, als aus dem weichen Ledertuch mehrere Goldmünzen geräuschvoll zu Boden fielen und davonrollten. Überrascht folgte Anneroses Blick den Talern, bis sie mit einem Klacken liegen blieben.
Acht Goldmünzen! Welch ein Vermögen! Sie hob jedes Goldstück behutsam auf. Schwer lag das Geld in ihrer Hand. Weil ihr aber auch der größte Schatz in ihrer selbst gewählten Einsamkeit wenig
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