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Das Hiroshima-Tor

Titel: Das Hiroshima-Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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hatte es nach und nach instand gesetzt, Beete angelegt und von ihrem wenigen Geld einen Schuppen
     gebaut.
    Sie hatte nicht vor, von hier wegzugehen.
    |203| Entschlossen hob sie Bücher vom Boden auf und stellte sie ins Regal, anschließend wischte sie über die Bodendielen, deren
     Ritzen zum Teil einen halben Zentimeter breit waren. Ab und zu machte sie einen traditionellen Hausputz, aber nicht jede Woche
     und nicht unbedingt samstags, so wie es ihre Mutter getan hatte. Heli wunderte sich immer wieder, woher die Frau die Kraft
     genommen hatte, unter den gegebenen Umständen das Vieh und den Haushalt zu versorgen, Wasser aus dem Brunnen zu pumpen, Feuer
     in Ofen und Kamin zu machen, Wasser zu erhitzen, Wäsche zu waschen, sich um das Gemüsebeet zu kümmern. Der Vater war nur an
     den Wochenenden von der Waldarbeit nach Hause gekommen.
    Auf einmal hielt Heli in ihren Bewegungen inne und lauschte. Sie sprang auf und war mit einem Satz am Fenster. Draußen war
     kein Auto zu sehen, dabei hatte sie geglaubt, ein Motorengeräusch zu hören.
    Sie machte mit dem Aufräumen weiter, blieb aber wachsam. Joni Mastomäki war in Stockholm festgenommen worden, aber er würde
     der Polizei kein Wort über Heli sagen. Sie war bei der Operation in Olkiluoto nur eine unbeteiligte Expertin. Aber vielleicht
     behielt die Polizei trotzdem ihr Haus im Auge.
    Die Regale füllten sich mit Büchern, aber einen Teil musste sie trotzdem in Stapeln auf dem Boden liegen lassen. Aus dem Französisch-Wörterbuch
     fiel ein Foto heraus, dessen Anblick ihr einen Stich ins Herz versetzte.
    Im Parc des Bastions in Genf stützte sich Lucas auf sein neues Fahrrad. Helis Blick glitt langsam über seine Augen, seinen
     Mund, seine Oberschenkel. Das Bild katapultierte sie in die zehn Monate zurück, die sie am CERN verbracht hatte und die für
     sie die anstrengendsten, anspruchsvollsten und glücklichsten ihres Lebens gewesen waren.
    Mit Gewalt schüttelte sie die Erinnerung an Lucas ab, wehmütig und erleichtert zugleich. Sie waren sich zu ähnlich, es konnte
     nicht gut gehen.
    Sie stapelte weiter Bücher auf. Darunter waren einige spezielle |204| Kostbarkeiten, die sie beim Schreiben ihrer eigenen Texte benutzt hatte. Lächelnd schlug sie ein Büchlein mit dem Titel ›Atomenergie   – Die Kraft der Zukunft‹ aus dem Jahr 1946 auf:
»Während ein Autofahrer heute zwei oder drei Mal pro Woche den Tank mit Benzin füllen muss, wird er in Zukunft ein ganzes
     Jahr über mit einer Energiemenge von der Größe einer Vitaminpille fahren können. Eine Pille der gleichen Größe wird dann auch
     ausreichen, um ein ganzes Haus zu beheizen.«
    Ein anderes Buch mit vielen Illustrationen stammte vom Ende der fünfziger Jahre und hieß ›Unser Freund, das Atom‹. Darin hieß es:
»Die Zauberkraft der Atom-Fee wird bald zum Wohle der gesamten Menschheit tätig werden. Durch sie wird man sich auch in abgelegenen
     Regionen die Errungenschaften der Gegenwart zunutze machen können. Sie wird mehr Nahrung und bessere Gesundheit bringen –
     die vielen guten Früchte der Wissenschaft werden allen Menschen zugute kommen.«
    Helis Lächeln war zynisch. Die vielen guten Früchte der Wissenschaft für alle Menschen. In der Tat.
    Schade bloß, dass eine äußerlich schöne Frucht innen so faul sein konnte.
    Sie schlug das Buch zu. Ein großer Teil der Entscheider in Finnland war geblendet von der »Zauberkraft der Atom-Fee«. Im ganzen
     Land herrschte eine vorbehaltlos technologiefreundliche Stimmung, und die Politiker begriffen nicht, dass sich die »atomare
     Phase« in der Entwicklung der Industriestaaten dem Ende näherte.
    Fast alle westlichen Länder hatten das akzeptiert, nur im Osten sträubte man sich noch: in Finnland, in Russland, in Asien.
    Heli ging wieder ans Fenster und blickte in den feuchten Garten hinaus, wo buntes Laub verstreut auf der Erde lag. Alles sah
     aus wie zuvor – trotzdem fühlte sie sich bedroht.
     
    |205| Im Südwesten von London, auf der Ringstraße M 25, fuhr ein olivgrüner Range Rover mit verdunkelten Scheiben durch die sanft
     hügelige Landschaft. Die tief hängenden Wolken ließen keinen Strahl der Morgensonne durch.
    Kim Jørgensen saß auf dem Rücksitz des Geländewagens, der auf dem Weg zum Flughafen Heathrow war. Er hatte einen Laptop auf
     den Knien und schrieb einen Bericht für Peking. Äußerlich wirkte er ruhig, aber die Ruhelosigkeit seines Blicks und die unmotivierten
     Bewegungen der Finger verrieten einen

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