Das Hiroshima-Tor
zu gehen. In einem Hotel oder bei Freunden ...«
»Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte Frau Vaucher-Langston. Ihre Stimme war rau und hart, sie war jetzt nicht mehr fähig,
ihre Gefühle zu kaschieren. »Ich habe sechzehn Stunden im Flugzeug gesessen, und jetzt fahre ich nach Hause und lege mich
ins Bett.«
Novak widersprach nicht. Die Frau wusste nichts, darum stellte sie auch kein Risiko dar.
|200| Es nieselte an diesem dunklen Morgen, und heftige Windböen ließen Timo den Kragen hochschlagen. Er hatte in der vergangenen
Nacht unruhig geschlafen, denn ständig waren ihm die Explosion, die Verletzten und die Toten im Kopf umhergespukt.
Um 6.53 Uhr fuhr ein Zug nach London. Dort konnte er um 9.05 Uhr den
Eurostar
nach Brüssel nehmen. Er wollte so schnell wie möglich bei Wilson sein, auch wenn er nicht absehen konnte, wie der ihm diesmal
begegnen würde. Das Bewerbungsgespräch bei der Sicherheitsfirma musste jetzt warten.
Timo hatte beschlossen, durch die Fitzwilliam Road zum Bahnhof zu gehen. Zu seiner Überraschung stand das Tor zu Vaucher-Langstons
Haus offen. Im Haus schien kein Licht zu brennen.
Timo wog kurz die Lage ab, dann betrat er vorsichtig das Grundstück.
Durch den Bewegungsmelder ging die Hofbeleuchtung an, als er sich der Haustür näherte. Er blickte sich um, dann machte er
eine Runde ums Haus. An der Küchentür sprang ein weiteres Halogenlicht an, und geblendet tastete er sich vorwärts, mit zunehmend
heftiger pochendem Herzen. Unwillkürlich spannte er die Muskeln an.
Aber nichts geschah, natürlich nicht. Er atmete tief durch und zwang sich, zur Ruhe zu kommen. Dann legte er die Hand auf
den Türgriff, darauf gefasst, dass abgeschlossen war.
Aber die Tür war offen. Er zuckte zusammen und versuchte erneut die Situation einzuschätzen.
Das Hoflicht vorn ging aus. Wieder erschrak er, aber dann begriff er, dass der Zeitschalter des Bewegungsmelders seinen Dienst
erfüllt hatte. Langsam machte er die Tür auf, trat ein und horchte.
Nur das Brummen des Kühlschranks durchbrach die Stille. Der metallische Schein der Halogenlampe draußen erleuchtete eine geräumige,
moderne Küche.
Timo ging zur Tür zum Esszimmer, blieb erneut stehen, um zu horchen, dann machte er Licht an.
|201| Mit normalem Schritt ging er in die Eingangshalle und sagte laut hörbar: »Frau Vaucher-Langston?«
Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen. Timo hielt inne und klopfte an.
Keine Reaktion. Langsam öffnete er die Tür ganz und betätigte den Lichtschalter. Die Bettdecke war zurückgeschlagen, aber
man sah, dass letzte Nacht niemand in diesem Bett geschlafen hatte.
Besorgt machte Timo kehrt und ging in den nächsten Raum, der offenbar als Gästezimmer diente.
Es war leer. Er steuerte auf das Arbeitszimmer am Ende des kurzen Gangs zu, blieb aber plötzlich vor einer verschlossenen
Tür stehen.
Er starrte auf den Parkettboden vor sich. Dort war eine Spur. Und noch eine. Flecken, die von einer Schuhsohle stammten, dunkelrote,
fast schwarze Flecken.
Timo machte die Tür auf, blickte in das Zimmer und schloss die Augen.
|202| 29
Auf der anderen Seite der Meeresbucht zeichneten sich im Nebel die Umrisse des Atomkraftwerks ab. Heli Larva nahm das Kuvert
aus dem Briefkasten und riss es sofort auf. Während sie las, sog sie die feuchte Morgenluft ein.
»Ich habe viel Geduld mit Ihnen gehabt, aber jetzt kann ich Ihnen nicht mehr entgegenkommen
«
, schrieb die Witwe, der das Haus gehörte, in dem Heli zur Miete wohnte.
»Ich weiß, wie viel Arbeit Sie in das Grundstück und das Haus gesteckt haben, aber die Situation ist eindeutig. Ich hatte
Sie ja schon vorgewarnt. Ich werde den Mietvertrag nicht verlängern, sondern das Haus verkaufen, und ich hoffe, Sie werden
es übernehmen. Die Schätzungen der Immobilienmakler schwanken zwischen 160 000 und 180 000 Euro. Sie bekommen es für 155 000, wie ich am Telefon schon sagte. Weiter kann ich Ihnen nicht entgegenkommen.«
Nachdenklich faltete Heli den Brief zusammen und ging ins Haus, um mit dem Aufräumen weiterzumachen. Der Brief enthielt keine
Neuigkeiten – trotzdem war es überraschend, ihn jetzt im Briefkasten zu finden. Heli mochte keine Überraschungen. Sie schufen
eine seltsame Atmosphäre von Unsicherheit und Bedrohung.
Aus der Siebziger-Jahre-Stereoanlage vom Recycling-Zentrum tönte kratzend Bob Dylans LP ›Blood on the Tracks‹. Heli wohnte
seit elf Jahren in dem Haus, sie
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