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Das Hiroshima-Tor

Titel: Das Hiroshima-Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Teil der Nervosität, die in seinem Innern tobte.
    Er war wütend und enttäuscht. Die Witwe von Vaucher-Langston hatte über die Angelegenheiten ihres Mannes nicht gesprochen.
     Aber hatte sie denn etwas gewusst? Das war nicht definitiv zu entscheiden gewesen, darum hatte Jørgensen die Frau vorsichtshalber
     eliminieren müssen, damit die Amerikaner sie nicht noch einmal vernehmen konnten. Auch die Amis beherrschten die Spezialitäten
     der Vernehmungstechnik, und es war durchaus möglich, dass sie etwas aus der Frau herausgebracht hätten, was Jørgensen nicht
     erfahren hatte. Sie war stärker und unberechenbarer gewesen als ihr Mann. Um sie zum Schweigen zu bringen, hatte Jørgensen
     zu brutaleren Methoden als sonst greifen müssen.
    Die blutigen Vorfälle hatten Heimweh in ihm ausgelöst. Er vermisste nicht nur Mei und das Baby, sondern auch Peking. Ihm fehlte
     das nervöse Geklingel der Fahrradglocken zur Hauptverkehrszeit, die ständige unmittelbare Nähe anderer Menschen, der Duft
     von Jasmintee. Er vermisste das Leben, das man gemeinschaftlich verbrachte und nicht in den eigenen vier Wänden: die schwatzenden
     Nachbarn, das Kartenspiel im Licht der Straßenlaternen, die Straßenhändler, die Nudeln, Gemüse, lebende Vögel und Wunderheilmittel
     feilboten. Selbst die Dienste von Barbier und Zahnarzt konnte man auf der Straße in Anspruch nehmen.
    Aber Jørgensen vermisste nicht die trendbewussten Leute in ihren Markenklamotten, die durch die Einkaufszentren schlenderten |206| , und auch nicht die gelangweilten Jugendlichen, die in Hamburger-Restaurants mit ihren Handys spielten. Würde sein Junge
     auch so einer werden? Jedenfalls nicht, wenn es nach ihm ginge.
    Jørgensen merkte, dass er im Hinblick auf seinen Sohn jetzt schon Erwartungen aufbaute und Grenzen zog. Das hatte sein Vater
     nie getan. Größere Konflikte zwischen ihnen hatte es nur bei politischen Themen gegeben. Der Vater hatte der chinesischen
     Regierung stets kritisch gegenübergestanden. Erst später hatte Jørgensen erkannt, was sein Vater wollte: Der Sohn sollte die
     sozialen Probleme sehen und sich nicht einfach vom Mainstream der Jugendlichen mitziehen lassen, die lediglich an ihrem eigenen
     Wohlstand interessiert waren. Allerdings hatte der Vater nie begriffen, dass Kim ja gar keine anderen Erfahrungen gemacht,
     dass er keine Vorstellung davon hatte, was »Demokratie« bedeutete.
    Sein Cousin in Dänemark hatte eine Brieffreundschaft mit ihm anfangen wollen, aber ihre Lebenswelten und Interessen wichen
     so stark voneinander ab, dass der Briefwechsel bald einschlief. Heute wäre das bei Jugendlichen in dem Alter anders gewesen,
     denn auch in Peking gab es längst CDs und MP 3-Player , Handys und Hamburger.
    Jørgensen nahm den Plastikbeutel mit den Hinterlassenschaften des Professors, die er Cecilia Vaucher-Langston abgenommen hatte,
     aus der Tasche. Ihn beschäftigte der kleine ovale Gegenstand aus Metall, in den etwas eingraviert war, das an die Umrisse
     eines seltsamen Fisches erinnerte.
    Es war eine Überraschung für ihn gewesen, dass Professor Vaucher-Langston in den letzten Momenten seines Lebens diesen Gegenstand
     in die Hand genommen hatte. Was hatte das zu bedeuten? Diese Frage würde auch die Amerikaner beschäftigen, sobald sie davon
     erführen. Falls sie nicht längst davon erfahren hatten.
    Jørgensen suchte in seiner Tasche nach der kleinen Digitalkamera, legte den Gegenstand neben sich auf den Sitz und machte |207| aus zwei Zentimeter Entfernung ein Foto davon. Er hatte das Gefühl, gescheitert zu sein, weil er den Professor nicht dazu
     gebracht hatte, etwas zu verraten. Versuchte der Mann womöglich, aus dem Grab heraus etwas mitzuteilen?
    Jørgensen übertrug das Foto auf den Computer und hängte es an seinen Bericht an. Geschützt von einem Einmal-Code schickte
     er alles über eine normale GPR S-Verbindung nach Peking.

|208| 30
    Am Morgen war Timo zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden auf dem Polizeirevier von Cambridge. Er hatte Wilson
     von Vaucher-Langstons Haus aus angerufen, wo Cecilia ermordet worden war, und ihm offen die Lage geschildert, auch die Drohungen
     der Amerikaner samt Schweigeabkommen. Nur so hatte er sich den Rücken freihalten können.
    Nach dem ersten Schock beruhigte er sich allmählich, trotzdem konnte er den Anblick der Leiche von Cecilia Vaucher-Langston
     in diesem Zimmer nicht aus seinem Kopf verscheuchen.
    Timo blieb der neugierige Blick des

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