Das Hiroshima-Tor
sich ein paar Eier, aß Bohnen aus der Dose und konnte nichts dagegen tun, dass
sich die Leiche von Cecilia Vaucher-Langston und die Explosion im Trinity College wieder in seine Gedanken drängten. Er warf
einen besorgten Blick aus dem Fenster. Die Bedrohung durch die Amerikaner bestand nicht mehr nur aus Worten oder dem beängstigenden
Text des Schweigeabkommens: Jetzt lag ganz konkrete, physische Gefahr in der Luft.
Beim Essen las er in dem Buch von Bronisław Zeromski, das er in London gekauft hatte.
›Auf den Spuren einer untergegangenen Zivilisation‹ war vier Jahre später erschienen als das Werk über die Sternkunde der
Maya und enthielt kein Sachregister, weshalb Timo es mühsam nach Erwähnungen des Quastenflossers durchforsten musste.
Aber jede Beschäftigung, die ihn von den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden ablenkte, war ihm willkommen. Er ging
eine Seite nach der anderen durch, bis er auf das gesuchte Wort stieß. Quastenflosser. Latimeria. Daneben war die Abbildung
eines paläontologischen Fossils zu sehen, das die Form eines Fisches mit vielen Flossen hatte. Eine andere Abbildung zeigte
ein Sternbild, auf dem die einzelnen Sterne mit Linien |219| verbunden waren, so dass sich ein gezacktes, fischartiges Gebilde ergab. Laut Zeromski wurde dieses Sternbild schon von den
Maya als »alter Fisch« bezeichnet.
Auf der nächsten Seite folgte eine Luftaufnahme der Hochebene Nazca in Peru. Die in die Erde gegrabenen Linien, die Geoglyphen,
stellten riesige Tierbilder dar. Es gab Hunderte davon: Affe, Vogel, Schlange, Spinne ...
Und in der Mitte des Fotos: der bekannte Fisch.
Timo hatte früher viel über die Scharrbilder von Nazca gelesen. Schon als kleiner Junge hatte er über Interpretationen geschmunzelt,
denen zufolge die Zeichen von Nazca ins Universum verwiesen oder Landeplätze für urzeitliche Raumschiffe markierten. Wofür
hätten fremde Zivilisationen Botschaften in Vogel- oder Affenform brauchen sollen? Falls jemand die Fertigkeit besessen haben
sollte, Raumschiffe für interstellare Flüge zu bauen, wären diese Leute garantiert ohne derart primitive Landemarkierungen
ausgekommen.
Das wiederholte Auftauchen des Quastenflossers aber konnte kein Zufall sein.
Timo schaltete die Stehlampe im Wohnzimmer an, nahm die Modemeinstellungen am Laptop vor und ging ins Internet. Das englische
Wort für Quastenflosser,
coelacanth
, brachte eine endlose Liste von Suchergebnissen. Viele der Seiten waren ausschließlich um den Fisch herum aufgebaut.
Das Tier war zweifellos faszinierend: eine Botschaft aus der Morgendämmerung des Globus. Timo konnte sich nicht konzentrieren,
er war frustriert und zornig. Aus einer Laune heraus nahm er ein Fotoalbum aus dem Regal und blätterte darin. Aaro als kleiner
Junge im Sandkasten, Soile, die neben ihm am Rand saß, Unterlagen für ihre Dissertation in der Hand, mit dem Rücken zu den
anderen Müttern. Auf einem anderen Bild lachte Soile aber mit anderen Müttern beim Grillfest der Hausgemeinschaft. Das waren
ihre zwei Seiten: die ehrgeizige Wissenschaftlerin, die sich isolierte, und die soziale Quasselstrippe.
Timo legte das Album auf den Tisch und rief den Chef der |220| Sicherheitspolizei in Helsinki an. Als Erstes fragte er, ob die SiPo etwas in Richtung Seine-Material unternommen hatte.
»Ich habe doch schon unzählige Male gesagt, dass wir die Arbeit aufnehmen, sobald wir Gewissheit über die Authentizität des
Materials haben.«
In Rautios Stimme klang Verärgerung mit, die er allerdings unter Kontrolle hielt, schon zu seinem eigenen Vorteil. Er wusste,
dass Timo zu viel wusste und bei Bedarf auch motiviert war, seine Kenntnisse einzusetzen.
»Ich bin im Besitz eines Fotos, das ich bislang nicht erwähnt habe«, sagte Timo, ohne sich um Rautios Stimmung zu scheren.
»Ein Passant hat auf dem Pont Marie mit seinem Handy Fotos gemacht, nachdem die Frau von der Brücke gesprungen war. Auf einem
davon ist wahrscheinlich Asko Lahdensuo zu sehen. Der Schwager der Premierministerin.«
Timo hatte diese Information bis zuletzt zurückgehalten, aber jetzt war der Zeitpunkt, alle Karten auf den Tisch zu legen.
Er musste die SiPo zum Handeln bewegen – von irgendwoher musste er Unterstützung bekommen. Und für den Fall, dass ihm etwas
zustieß, sollte noch jemand Bescheid wissen.
Am anderen Ende der Leitung war es lange still.
»Warum sagst du ›wahrscheinlich‹?«, fragte Rautio tastend.
»Die
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