Das Hiroshima-Tor
Gedichtband von Wisława Szymborska. Nishikawa
verließ den Kongress vorzeitig ...«
Zeromskis Stimme war zu einem Flüstern geworden. Timo notierte sich die Namen Nishikawa und Szymborska. Da drehte sich Zeromski
um und sah ihm direkt in die Augen. Die Beklommenheit und die Traurigkeit des Blicks steigerten Timos Unruhe.
»Sie wollten wissen, wann, wohin und mit wem Nishikawa weggefahren war«, flüsterte Zeromski. »Und ob ich in Marburg Nishikawas
Vater gesehen hätte. Die Männer waren sehr dreist und wirkten bedrohlich. Obwohl ich sagte, ich wisse es nicht – was der Wahrheit
entsprach –, insistierten sie. Ich hatte Angst, denn sie machten den Eindruck, als wären sie bereit, Gewalt anzuwenden, um aus mir herauszubekommen,
was sie hören wollten. Ich dachte daran, zur Polizei zu gehen, aber was hätte ich dort sagen sollen? Sie hatten mich physisch
nicht angerührt, auch wenn nicht viel gefehlt hat.«
|247| Timo schluckte. Das Fauchen des Gasherds überdeckte fast Zeromskis ängstliche Stimme. »Und jetzt, fünfzehn Jahre später, ruft
mich ein Mann an und will mich treffen, um über dieselben Dinge zu reden.«
Timos Herz hämmerte. »Wann hat er angerufen?«
»Vor zwei Tagen. In Zakopane. Der Ton war allerdings deutlich anders. Geradezu höflich.«
»Ein Russe?«
»Ich weiß es nicht. Ja, er hatte einen Akzent, aber er klang nicht russisch. Ich will auf das Thema nicht mehr zurückkommen ...«
»Hat er versucht, Ihren Aufenthaltsort zu erfahren?«
Zeromski nickte. »Ich sagte, ich sei auf Reisen, teilte ihm aber nicht den genauen Zeitpunkt meiner Rückkehr mit.«
Timo drehte sich rasch um und ging ins Wohnzimmer zurück. Sie hätten in dem Café bleiben sollen.
Da klopfte es an der Tür.
Timo erstarrte, Zeromski sah ihn ernsthaft an.
»Wer ist das?«, flüsterte Timo.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Zeromski erschrocken. »Normalerweise kommt um diese Zeit niemand, ohne vorher geläutet zu
haben ...«
Es klopfte wieder, energischer als zuvor.
»Wie konnten sie zur Haustür hereinkommen?«, fragte Zeromski. »Dort ist eine Klingel ...«
»Kommt man hier auf einem anderen Weg hinaus? Gibt es eine Feuerleiter?«
Zeromski war noch verwirrter als zuvor. »Was meinen Sie damit? Warum ...«
»Schnell«, flüsterte Timo. Er legte seine Notizen auf den Tisch, um das Wohnzimmerfenster zu öffnen.
»Da ist keine Leiter. Die Tür ist der einzige Ausgang. Und das Fenster im Bad.«
Das Klopfen verwandelte sich in ein Hämmern.
Es war eine Frage von Sekunden, bis sie das Schloss aufbrachen.
|248| »Ich mache auf«, flüsterte Timo. »Verschwinden Sie durch das Badezimmerfenster! Rasch!«
»Nein, von dort kommt man nur aufs Dach ...«
»Gehen Sie!« Mit einer heftigen Bewegung schob Timo den alten Mann ins Bad. Erst da sah er, dass es zu lange dauern würde,
ihn durch das weit oben angebrachte Fenster hinauszuschieben.
»Gehen Sie zum Telefon und holen Sie Hilfe.«
Während Zeromski zum Telefon ging, zog Timo die Badezimmertür zu und schob den Riegel vor. Der würde niemanden daran hindern,
hereinzukommen, brachte aber ein paar Sekunden Vorsprung. Mit einem Satz war Timo auf der Badewanne, die Flecken von Rostwasser
hatte, und riss den geschlossenen Vorhang vor dem Fenster zur Seite. Dabei hörte er, wie die Wohnungstür eingetreten wurde.
Ohne zu zögern, öffnete er das halb morsche Fenster in der Angst, die Badezimmertür könnte jeden Moment hinter ihm aufgehen.
Die Fensteröffnung war schmal, aber das war nicht das größte Problem. Es würde ihm schon gelingen, sich irgendwo hindurchzuschieben,
doch unter ihm befand sich ein steil abfallendes Ziegeldach. Von irgendwoher kam ein schwacher Lichtschein, in dem Timo oben
den First und unten die Regenrinne erkennen konnte. Über der Stadt wölbte sich der Sternenhimmel. Timo ergriff den Fensterrahmen
und wand sich aufs Dach hinaus.
Jemand rüttelte an der Badezimmertür.
Isama Nishikawa, Marburg, Wisława Szymborska
...
Ein roter Dachziegel löste sich unter Timos Fuß, rutschte über die Regenrinne hinweg und zerbrach zwei Sekunden später auf
dem Straßenpflaster. In dem Moment zersplitterte die Badezimmertür, und eine hoch gewachsene Gestalt drängte herein. Timo
suchte Halt am Fensterrahmen und schwang sich mit einem Ruck zum First hinauf. Der Eindringling griff durch das offene Fenster
nach Timos Bein, bekam den Hosenstoff aber nicht mehr zu fassen.
Timo musste sich
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