Das Hiroshima-Tor
blitzschnell entscheiden. Er könnte bleiben, wo er war, und versuchen, den anderen vom Dach zu stürzen, |249| falls er ihm durch das Fenster folgen wollte. Aber wahrscheinlich hatte der Verfolger eine Waffe. Es blieb ihm also nichts
anderes übrig, als die wenigen Sekunden Vorsprung zur Flucht zu nutzen.
Im Dunkeln richtete er sich auf dem Dachfirst auf. Ein Fehltritt, und er könnte seine Knochen unten auf dem Straßenpflaster
zusammensammeln. Aber die Dunkelheit schützte ihn zugleich vor den Kugeln aus der Waffe des Verfolgers.
Das spitz zulaufende Dach erforderte einen sicheren Tritt und ein gutes Gleichgewicht. Timo blickte konzentriert vor sich.
Isama Nishikawa
, sagte er sich wie ein rettendes Mantra innerlich vor. Die roten Dachziegel waren kaum zu erkennen. Ein Teil von ihnen war
lose oder fehlte ganz. Intuitiv breitete er die Arme aus und ging schwankend vorwärts.
In dem Moment hörte er vom Fenster her Lärm. Ein weiterer Ziegel rutschte über die Regenrinne und fiel auf die Straße. Eine
dunkle Gestalt betrat das Dach und streckte den Arm in Timos Richtung aus.
Timo warf sich rechtzeitig flach nach vorn, bevor aus der Pistole ein dumpfes
tzup
zu hören war: Sie benutzten Schalldämpfer.
Das waren Profis. Und sie meinten es ernst. Der nächste Schuss würde nicht vorbeigehen. Auch nicht im Dunkeln.
Timo griff nach einem losen Ziegel und schleuderte ihn, so fest er konnte, auf den Angreifer. Er spitzer Aufschrei verriet
ihm, dass er getroffen hatte.
Erst da begriff Timo, dass er von einer Frau verfolgt wurde. Sie verlor das Gleichgewicht und geriet ins Taumeln. Er konnte
ihr Gesicht nicht erkennen, obwohl Licht aus dem Bad aufs Dach fiel. Die Frau stieß gedämpfte Laute aus, die Timo zusammenfahren
ließen. Er bewegte sich auf dem Dachfirst weiter voran, nachdem er ein paar weitere Sekunden Vorsprung gewonnen hatte, dabei
klangen die Laute aus dem Mund der Frau in seinen Ohren nach.
Das war kein amerikanisches Englisch gewesen. Er konnte die Sprache nicht identifizieren, aber irgendwie hatte es chinesisch
geklungen.
|250| Als er den Lärm von oben hörte, griff Novak sofort nach seiner Pistole. Mit Scott rannte er zu Zeromskis Haustür. Perry und
Baumgarten warteten im Wagen. Waren die Chinesen schon wieder vor ihnen da?
Novak blieb vor der Tür stehen. Die Situation gefiel ihm nicht. Er hätte gern eine kugelsichere Weste angezogen, aber dafür
war jetzt keine Zeit mehr.
»Warte hier«, flüsterte er. »Ich checke die Lage.«
Auf dem Dach beschleunigte Timo seine Schritte, ohne noch groß an sein Gleichgewicht denken oder Angst bekommen zu können.
Jetzt war es ernst – er hatte die Wahl zwischen einer Kugel oder dem freien Fall. Immer mehr Dachziegel rasselten unter seinen
schweren Schritten nach unten, während er dem Dach des niedrigeren Nachbarhauses entgegenstrebte. Er drehte sich um und sah,
dass die Gestalt neben dem Fenster verschwunden war. Hatte sie sich hinter dem Schornstein versteckt?
Auf der Straße sprang ein Motor an, und das Licht von Scheinwerfern flammte auf der rissigen Wand des Eckhauses auf. Warum
zum Teufel waren Chinesen hinter dem Material her? Oder hatte er die Sprache falsch identifiziert? Das Interesse der Chinesen
würde den Tod der Amerikaner bei der Explosion im Trinity College erklären – es gab weltweit kaum jemanden, der fähig war,
sich den Amerikanern in den Weg zu stellen.
Timo erreichte den Rand des Daches und musste feststellen, dass das Dach des Nachbarhauses viel niedriger lag, als er angenommen
hatte. Es ging fast zwei Meter nach unten – und dort unten wartete ein spitz zulaufender First.
Er blickte sich um und sah die dunkle Gestalt mit der Waffe in der ausgestreckten Hand hinter dem Schornstein hervorkommen.
Timo konzentrierte sich einen Wimpernschlag lang, dann sprang er. Seine Füße trafen in spitzem Winkel auf dem Dach auf. Obwohl
der Aufprall nicht zu hart war, schoss ihm ein scharfer |251| Schmerz vom rechten Fußgelenk aus ins Bein. Das rechte war schon immer sein schwächeres Bein gewesen.
Beim ersten schnellen Schritt zeigte sich aber, dass der Knöchel nicht verstaucht war. Timo rannte auf dem Dach vorwärts und
rechnete damit, gleich ein noch niedrigeres Dach vor sich zu sehen, aber da kam überhaupt kein Dach mehr. Er war vom Nachbarhaus
durch eine schmale Gasse getrennt.
Mit vorgehaltener Waffe führte Jørgensen den alten Zeromski zur Wohnungstür. Dabei versuchte er
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