Das Hiroshima-Tor
Schloss.
»Ich wohne hier im neueren Teil der Altstadt«, sagte er und hielt Timo die Tür auf. »Das Haus ist relativ jung, aus den achtziger
Jahren des 17. Jahrhunderts.«
Und im Originalzustand, hätte Timo hinzufügen können. Farbe und Putz hätten nicht ausgereicht, um es wieder in Ordnung zu
bringen: das dreistöckige Gebäude schien kurz vor dem Einsturz zu stehen. Er folgte Zeromski eine schmale Treppe hinauf, deren
Stufen bei jedem Schritt nachgaben.
»1997 fand man im südlichen Stillen Ozean eine 2000 Kilometer lange und drei Kilometer hohe Bergkette, von deren Existenz bis dahin niemand etwas wusste. Wenn man so etwas einfach
so finden kann, was müsste sich dann unter Wasser noch alles entdecken lassen? Es ist lächerlich, geradezu beschämend, dass
der Mars fotografiert und kartiert ist – unser Planet jedoch keineswegs: 70 Prozent der Erdoberfläche sind nur deshalb |240| nicht kartiert, weil sie sich zufällig gerade unter Wasser befinden.«
Auf der Treppe kam Zeromski noch mehr außer Atem. Das Treppenhaus war vielleicht in den sechziger Jahren renoviert worden,
aber die Wohnungstür, die Zeromski im Licht einer Glühbirne aufsperrte, sah wirklich sehr alt aus.
»Es ist seltsam, mit wie wenig Beweisen die Archäologen ihre Auffassung von der Entstehung und Entwicklung der Zivilisationen
etablieren konnten«, sagte der Gastgeber und schaltete eine schwache Tischlampe ein, die für eine gemütliche Atmosphäre in
der Diele sorgte. In der Luft lag der Duft von alten Büchern, den Timo so gern mochte.
»In den Ufergewässern, also in den Gebieten, die einst trockenes Land waren, hat man bereits bedeutsame Funde gemacht. Und
es wird noch viel mehr davon geben ... Entschuldigen Sie, hier ist es ein wenig unordentlich. Ich war zwei Wochen verreist, und mein Aufbruch war ziemlich überhastet.«
Zeromski deutete auf die Garderobe. »Wissenschaftler lassen sich ungern die eigenen Theorien verwässern, bis zuletzt halten
sie daran fest. Schon vor Zeiten wurde die These aufgestellt, es sei auf der Erde zu weit mehr Asteroideneinschlägen gekommen
als bislang angenommen. Fast spöttisch sind diese Behauptungen abgelehnt worden, bis bewiesen werden konnte, dass ein Teil
der Krater, die man Vulkanen zugeordnet hatte, tatsächlich die Spuren von Asteroidentreffern sind. Solche Einschläge haben
unter Umständen abrupte Klimawechsel bewirken können, was sich wiederum unmittelbar auf die Entwicklung des Menschen ausgewirkt
haben könnte.«
Timo zog seine Jacke aus und trat hinter seinem Gastgeber in einen größeren Raum, wo sich in Regalen enorme Mengen von Büchern
drängten. Der größte Teil schien aus wissenschaftlichen Werken zu bestehen, aber ein Regalabschnitt war dünnen Gedichtbänden
gewidmet.
Zeromski folgte Timos Blick.
»Es gibt Dinge, die von der Wissenschaft nicht erklärt werden |241| können, wohl aber von der Dichtung«, sagte er mit warmem Lächeln.
Im ordentlichsten aller Regale erkannte Timo die englischen Übersetzungen von Zeromskis Werken. Daneben standen Übersetzungen
ins Deutsche und ins Tschechische.
Im Vergleich zur anderen Einrichtung wirkte der futuristische Apple-Computer auf dem Schreibtisch wie ein Fundstück von einem
der Planeten, deren Bilder an den Wänden hingen. Die Decke war schwarz gestrichen, dort verliefen Drahtseile mit Halogenlampen,
die wie Sterne aufleuchteten, als Zeromski den Schalter drückte. Eine Wand war gespickt mit gerahmten Fotos von süd- und mittelamerikanischen
Indianertempeln und ägyptischen Pyramiden. Eines der größten Fotos zeigte die Scharrbilder von Nazca in Peru. Es schien das
gleiche Bild zu sein wie in dem Buch.
Unwillkürlich richtete Timo sich auf, als er einen Gegenstand an der Wand hängen sah, den er kannte: ein Amulett, das exakt
demjenigen glich, das Professor Vaucher-Langston bei seinem Tod umklammert hatte, einschließlich der eingravierten Umrisse
eines Fisches mit stumpfem Maul und vielen Flossen. Aber vorläufig wagte Timo es nicht, nach dem Amulett zu fragen.
Zeromski trat ans Bücherregal und zog einen ledergebundenen Band heraus. »In diesem Werk hat der Anthropologe Hans Brück in
den dreißiger Jahren einige der Legenden aufgeschrieben, die von süd- und mittelamerikanischen Indianern von Generation zu
Generation weitergegeben wurden. Nehmen wir zum Beispiel die weißhäutige Gestalt namens Quetzalcoatl oder auch Viracocha.
Sie kam ›aus dem
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