Das Höllenbild
sezieren und bis tief auf den Grund meiner Seele blicken.
»Begreifen?« fragte sie schließlich.
»Ja – begreifen.« Ich hoffte auf eine Erklärung, aber ich wurde enttäuscht. Sie streckte mir ihren rechten Arm entgegen. Mir fiel sofort die helle Hand auf und die dicht nebeneinander liegenden Finger.
»Bitte«, sagte sie nur.
»Was ist?« fragte ich, weil ich mit dieser ersten Gestik nichts anfangen konnte.
»Bitte komm mit.«
»Ja, gern. Aber wohin willst du mich bringen?«
»Zu mir«, erklärte sie schlicht.
Das war eine gute Idee, wie ich fand. Sicherlich würde sie in ihrer Umgebung auftauen und mir gewisse Dinge erklären, die ausgesprochen wichtig für mich waren.
Ich zögerte nicht mehr länger, überwand die kurze Distanz und erlebte, daß sie mich anfassen wollte, denn mit ihrer Hand umschloß sie auch die meine, die linke.
Ich war auf die erste Berührung zwischen uns gespannt gewesen und stellte sofort fest, daß Myrnas Haut sehr weich und auch sehr warm war.
Sie wurde gut durchblutet. Für mich war sie kein Geist. Es ging neben mir ein Mensch her. Allerdings ein sehr rätselhafter und auch märchenhafter, wie ich zugeben mußte.
Ich war natürlich gespannt, wohin sie mich führen würde. Nicht mehr dorthin, wo ich hergekommen war. Wir blieben am Ufer des Baches, dessen Plätschern auf mich so beruhigend wirkte. Da Myrna nicht sprach, konnte auch ich mich meinen Gedanken hingeben, und die drehten sich natürlich um die neue Umgebung.
Ich kannte dieses Land nicht. Oder diese Umgebung, das stand fest.
Aber ich glaubte einfach nicht daran, daß dies für mich eine Premiere war. Das Land kannte ich, obwohl es mir im Prinzip unbekannt war. Mit diesem Widerspruch beschäftigte ich mich, wobei ich versuchte, ihn gedanklich aufzulösen.
Bekannt – unbekannt?
Meine Vermutungen wogten hin und her. Ich wußte, daß es einen Punkt gab, an dem ich einhaken konnte. Diese satten Farben, dieser klare Himmel über mir, das helle, sprudelnde Wasser, das leise Plätschern, die Blüten in meiner Umgebung, das alles vereinte sich zu einer Erinnerung, die nun in mir hochstieg.
Doch, ich wußte Bescheid. Dieses kleine Paradies erlebte ich nicht zum erstenmal.
Eines war es nicht – Atlantis!
Nein, auf keinen Fall. Atlantis war anders, antiker und nicht so blühend.
Ich war ebenfalls in eine Legende hineingeraten, aber in eine äußerlich schöne.
Blumige Wiesen, die laue Luft. Der Gang hinunter zum Bach. Ähnliches war mir widerfahren.
Auf einmal wußte ich Bescheid. Es traf mich zwar nicht wie ein Schock, aber viel fehlte nicht. Und ich reagierte so außergewöhnlich, daß meine Hand aus der meiner Begleiterin rutschte.
Ein Name schoß mir durch den Kopf.
AVALON!
Jawohl, Avalon. Die Insel der Äpfel, wie sie in alter Zeit genannt worden war, denn daraus war der Name entstanden. Avalon – das geheimnisvolle Land auf dem Meer. Die Nebelinsel, die irgendwo im Nirgendwo lag, um die sich Sagen drehten wie die über König Artus, aber auch die des Zauberers Merlin.
Ich hatte sie erlebt. Ich kannte die Toten von Avalon, die Ritter, und ich kannte noch jemanden, der hier lebte und den geheimnisvollen Dunklen Gral bewachte.
Es war Nadine Berger!
Die schöne Nadine, deren Seele einmal in der Gestalt einer Wölfin existiert hatte. In Avalon hatte sie ihr neues, ihr wunderbares Zuhause gefunden.
Meine Gedanken drifteten weiter. Eine kleine Stadt kam mir in den Sinn.
Sie hieß Glastonbury, auch das englische Jerusalem genannt. Ich dachte an das mächtige Steintor auf dem Hügel, das außerhalb der Stadt lag. Ich dachte an die in den Hügeln angelegte Treppe, die zum Tor hochführt, zwischen dessen Wänden die Magie eine Heimat gefunden hatte und praktisch das Tor zu Avalon war.
Ein Dimensionstor in der Vergangenheit, aber auch eines, durch das ich die Vergangenheit verlassen konnte.
Es ging mir plötzlich gut. Die Beklemmung war gewichen. Es mochte daran liegen, daß ich für mich persönlich wußte, wo ich mich befand.
Und ich hoffte darauf, meine alte Freundin Nadine zu sehen. Vielleicht auch den Dunklen Gral, den sie als Preis dafür erhalten hatte, daß mein alter Freund Abbé Bloch sein Augenlicht zurückerhielt.
Ja, der Kreis begann sich zu schließen, und plötzlich lächelte ich, was auch meiner Begleiterin nicht verborgen blieb, denn sie fragte mich mit leiser Stimme: »Du freust dich?«
»Ja.«
»Es ist gut, wenn sich Menschen freuen. Denn dann haben sie gute Gedanken.«
»Das
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