Das Höllenbild
»Zunächst einmal möchte ich dir sagen, was ich weiß.«
»Bitte.«
»Wir befinden uns in Avalon!«
Myrna senkte den Blick. Ihre klaren Augen verschwanden unter den Lidern, und sie sah aus wie eine Frau, die erst noch nachdenken mußte, bevor sie etwas sagte.
»Habe ich recht?«
»Ja, du hast recht«, gab sie zu. »Und ich weiß auch, daß du kein schlechter Mensch bist.«
»Danke, das freut mich. Aber woher weißt du es?«
»Sonst hätte Avalon dich nicht aufgenommen.«
Sie hatte dies mit einer derartigen Sicherheit ausgesprochen, daß ich ihr nur zustimmen konnte. Überhaupt machte sie auf mich einen sehr sicheren Eindruck, und ich fragte mich, was sie auf diesem Teil der Insel wohl tat. Welcher Wind sie hierher geweht hatte. Vielleicht wollte sie sich erklären, fand aber nicht den richtigen Weg, und so versuchte sie es wie immer – mit Fragen.
»Du lebst hier?«
»Ja.«
»Und du heißt Myrna.«
»Ja.«
So kam ich nicht weiter, deshalb änderte ich mein Konzept. »Kann ich dich als einen Menschen ansehen, oder bist du jemand, der eine menschliche Gestalt angenommen hat?«
Sie überlegte einen Moment. »Es ist möglich, daß ich beides bin. Ein Mensch und ein Wesen der Insel. Da hat sich das eine mit dem anderen zusammengefügt.«
»Du kennst dich hier aus?«
»Hier schon«, erklärte sie vieldeutig.
»Woanders nicht?«
»Nein, denn ich habe hier mein Gebiet.«
»Dann ist dir auch der Name einer Frau, den ich dir jetzt nennen werde, wohl kein Begriff. Sie ist eine Freundin von mir. Sie hat in meiner Welt gelebt, aber sie hat ihr den Rücken zugekehrt. Ich will über die Umstände jetzt nicht reden. Jedenfalls lebt die Frau nun in Avalon, und sie heißt Nadine Berger.«
Ich hatte Myrna unter Kontrolle behalten. Ich wartete auf eine Reaktion.
Auf ein freudiges Lächeln oder auf ein kurzes Erschrecken, aber beides trat nicht ein. Sie blieb einfach nur sitzen, schaute mich an, entdeckte wohl die Erwartung in meinen Augen, und sie schüttelte sehr langsam den Kopf.
»Du kennst sie nicht?«
»Ich höre den Namen zum erstenmal. Aber die Insel ist groß. Sie hat viele Gebiete. Und manche von ihnen sind auch im Nebel der Zeiten einfach verschwunden.«
Ja, Nebel der Zeiten. Da hatte sie etwas Wunderbares gesagt, aber ich gab noch nicht auf, denn ich wollte noch immer die Verbindung zwischen Avalon und dem Tor von Glastonbury herstellen. Deshalb kam ich auch auf dieses Thema zu sprechen und erwähnte die beiden Orte, die allerdings bei Myrna Ratlosigkeit hinterließen.
»Daran kann ich nichts ändern«, erklärte ich, um abermals das Thema zu wechseln. Spekulationen in die Höhe zu treiben, hatte keinen Sinn.
Andere Dinge waren wichtiger, besonders diejenigen, die Myrna direkt betrafen, auch die, die mir während des Gangs zum Bachufer aufgefallen waren.
Ich wollte nicht direkt mit der Tür ins Haus fallen deshalb sagte ich: »Als ich hier eintraf und von einer flachen Hügelkuppe aus den Bachlauf sehen konnte, da bin ich hingegangen. Ich wollte ans Wasser, ich verspürte Durst, doch ich habe nichts getrunken. Statt dessen machte ich eine Entdeckung, mit der ich nicht zurechtkam. Ich vergaß einfach, mich am Wasser zu erfrischen, denn diese Entdeckung war unwahrscheinlich. Am Ufer des Bachs sah ich große und auch tiefe Fußspuren im Boden. Füße, die nicht von Menschen stammen können, denn dazu waren sie einfach zu groß. Etwa dreimal so groß wie der Fuß eines Menschen. Du weißt, von wem ich spreche?«
Myrna hatte mir zugehört und spitzte nun die Lippen, als wollte sie mir etwas zuflüstern. Ich war ungeduldig, aber ich zähmte dieses Gefühl und wartete auf ihre Antwort.
»Ja, John, du hast dich nicht geirrt. Es gibt diese Spuren am Bach. Ich kenne sie auch.«
Bei meiner nächsten Bemerkung beugte ich mich etwas vor. »Und sie waren frisch oder neu, denn das Gras hatte sich noch nicht wieder aufgerichtet.«
Myrna reagierte seltsam. Sie stand auf, drehte mir den Rücken zu, ging zum Fenster und blieb dort stehen. Ich überlegte noch, ob ich ihr folgen sollte, als ich ihre Stimme hörte. »Es ist für euch normale Menschen wohl nicht leicht, alles hinzunehmen, was es in diesem Teil der Insel gibt. Aber die Spuren reden eine deutliche Sprache. Sie gehören den eigentlichen Herrschern dieses Gebiets.«
»Sind es Riesen?« fragte ich.
Myrna drehte sich um. Sie blickte mir fest ins Gesicht. »Ja, es sind Riesen, John, und ich bin ihre Hüterin…«
***
Fünf Sekunden waren verstrichen.
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