Das Hohe Haus
Amplituden, selbst die aufschwappende Empörung im Plenum dringt nicht durch. Manchmal reden wir jetzt auf den Fluren. »Und – wie sind die Debatten heute?«, fragt jemand. »Brillant«, wird ihm geantwortet. Die Garderobenfrauen sitzen da mit geschnittenen Apfelstücken auf einer Untertasse. Sie reden über das Reisen, ein Essen, das Zuhause, es stellt sich das Gefühl für ein Solidarschicksal ein.
Auf dem Monitor vor der Tür schaue ich mir stumm Ursula von der Leyen an. Man sieht die Brandung der Gegenwehr aus der Opposition auf ihrem Gesicht. Wie souverän im Umgang sie damit ist! Es scheint ihr regelrecht Spaß zu machen. Sie variiert ihre Gestik, swingt, ihre Schlaghosen stehen wie Sockel, oben nutzt sie die ganze Spannweite ihrer Arme. In kurzer Zeit war sie alles: Erzieherin, Pädagogin, Mädchen, Respektsperson, Fräulein, Range. Bei Fragen macht sie sich Notizen, hört einem einflüsternden Staatssekretär zu, markiert, unterstreicht, streckt den Zeigefinger wie zur Wortmeldung, redet noch einmal, offenbar deeskalierend, provoziert die nächsten Stürme, setzt sich, sitzt danach lange bewegungslos mit einem Glas vor dem Mund, aus dem sie nicht trinkt.
Als ich den Saal wieder betrete, spricht eine blonde Abgeordnete der Linken zur Rentenanpassung Ost-West. Sie ist fast am Ende und sagt mit Blick auf die Wahlen: »Wir alle wissen nicht genau, wie es ausgehen wird, und so weiß auch ich nicht genau, ob ich hier noch einmal sprechen kann.« Dann bricht sie in Tränen aus. »Ich möchte Ihnen und vor allen Dingen auch allen, die zuhören, deshalb sagen: Solange ich denken kann, solange mein Herz schlägt, werde ich für Gerechtigkeit in Sachen Rentenüberleitung kämpfen. Die Lebensleistung Ost muss anerkannt werden!« Die letzten Worte gehen in Schluchzen über. Man nimmt sie in die Arme, nach und nach kommen mehrere Delegierte ihrer Partei und trösten sie. Dann muss sie lachen, aber die Tränen wischt sie sich noch fünf Minuten später von der Wange. Dann verschränkt sie die Arme über der Brust, was ihr etwas Proletarisches gibt, lacht über einen Fehler des CDU -Redners, muss aber gleich wieder weinen. Wer aufrichtig und berührt ist in der Sache, wirkt hier sympathisch deplatziert.
Wer dagegen wie Peter Weiß ( CDU / CSU ), im Kommisston und ohne Anschluss an das eben Erlebte, Zwischenfragen mit jovialem Gestus abtut, um dann in die Pose des Volksdemagogen zu verfallen, wer seine trivialsten Sätze zerdehnt, in denen er künstliche Pausen setzen und die Stimme zum schneidigen Belfern sammeln kann, um breitbeinig und mit der hämmernden Faust dem Saal einzutrichtern: »Vertrauen Sie Angela Merkel«, der gilt als Vollblutpolitiker. Es gibt Menschen, die ändern ihren Charakter im Auto, und es gibt solche, die ändern ihn am Rednerpult. Vielleicht sind sie woanders klug und bedächtig, im Element der Parlamentsrede aber sind sie bloß grob.
Franz Müntefering sitzt wieder ganz hinten mit übereinandergeschlagenen Beinen, schaut mit den Augen des Alten, der zusieht, wie die Jungen übernommen haben und in die Formen passen. Gerade die beiden jungen Frauen, die zuletzt sprachen, sind beeindruckend in ihrer Energie, auch einer Wahrhaftigkeit, die ohne Effekt ist. Diana Golze ( DIE LINKE ), dieses schmale kunstrote Mädchen mit dem leuchtenden Pferdeschwanz zum grellgrünen Shirt, spricht mit der Dringlichkeit der jungen Frau, die in diesem Augenblick Stimme der gesamten Opposition ist. Sie schert sich offenbar wenig um die allgemeine Zustimmung, arbeitet, zurückgekehrt in die erste Reihe, gleich weiter.
Und da ist Katja Dörner ( B 90 / DIE GRÜNEN ), die ein modernes Frauen- und Mutterbild gegen das Betreuungsgeld verteidigt, ehe ein Landjunker der CDU / CSU übernimmt. Er hat etwas vom Rotwangigen, Schlichten des Mannes, der morgens noch den Stall ausgemistet hat, dann den geerbten grünen Schlips, dazu eine Ehrennadel anlegt und eine mundartliche Rede im Parlament hält mit dem Refrain: »isch nix«, »isch nix«, »isch nix«. Als jemand »Armleuchter« ruft, muss Vizepräsident Solms, der sonst alles geschehen lässt und selbst Lärm nicht bemerkt, sagen: »Ich rüge das ausdrücklich.«
In der folgenden Sitzungsunterbrechung wegen einer namentlichen Abstimmung ist plötzlich Peer Steinbrück auf der Pressetribüne und erklärt zwei Kindern die Anordnung des Parlaments. Es könnte privat sein, im Wahlkampf aber wirkt alles kalkuliert: »Das Rednerpult könnt ihr da erkennen«, sagt er. Ich
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