Das Hohe Haus
ist eine halbe Stunde vor Mitternacht, als Vizepräsident Wolfgang Thierse mit dem Verlesen der Anträge, Änderungsanträge, Beschlussempfehlungen und Entschließungsanträge beginnt, zu denen die Reden zu Protokoll gegeben werden. Er endet, über seine Papiere gebeugt, mit den Worten: »Die Tagesordnung, steht hier, ist erschöpft. Ich auch. Das waren jetzt sage und schreibe 85 Minuten – eine Stunde und 25 Minuten –, die ich hintereinander gelesen habe. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause.) Ich bitte, mir demnächst irgendeinen Geschäftsordnungsverdienstorden anzuhängen. Ich berufe feierlichst die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen (Zurufe: Heute!) – nein: auf heute –, Freitag, den 28 . Juni 2013 , 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine ruhige Nacht.«
Es ist jetzt 0 . 52 Uhr.
Freitag, 28 . Juni, 9 Uhr
Weil es heute zuerst um Hilfsfonds zur Bewältigung der Hochwasserkatastrophe gehen soll, ist die Bundesratsbank gut besetzt. Auch Repräsentanten der geschädigten Länder werden sprechen. Präsident Lammert beginnt: »Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zu unserer 251 . Sitzung in der allmählich zu Ende gehenden Legislaturperiode. Ich begrüße all diejenigen, die schon wieder da sind – und ganz besonders diejenigen, die immer noch da sind, die die gestrige Jubiläumssitzung, die 250 . Sitzung, in vollen Zügen genossen haben.«
Die Ironie gewinnt an Bitterkeit, als Reiner Haseloff, Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, ans Pult tritt. Er, der Repräsentant des vom Hochwasser schwer und bleibend getroffenen Bundeslandes, kann dieses zumindest rhetorisch kaum vertreten. Seiner Rede fehlt jeder Akzent. Was über Leiden zu sagen ist, wird heruntergeleiert und verliert an Evidenz. Wäre er bloß erschöpft, man begriffe, so aber existiert da ein Redner stumm neben seiner geschriebenen Rede. Von den Ministern sind einzig Aigner und Schäuble im Raum. Schäuble hat den Kopf in den Händen vergraben, Aigner lacht mit von Klaeden. Ein Fotograf spottet über »das rhetorische Feuerwerk«. Dann erhebt sich Aigner, geht zu Haseloff und schüttelt ihm lange und wie kondolierend die Hand.
Es gibt auch im Umgang mit der Katastrophe alle Typen aus dem dramatischen Personal: den Ministerpräsidenten, der auf beredte Weise stumm bleibt; den Parlamentarier, der vom Schauplatz des Geschehens kommt und vor allem das mitteilt; den Parteisoldaten, der, rhetorisch auf der Deichkuppe stehend, vor allem den politischen Gegner bekämpft; die ehemalige Umweltministerin, die den Bogen von der Fließgeschwindigkeit der Flüsse bis zum Klimaschutz spannt; den Parlamentarischen Staatssekretär mit den Forderungen: »dann müssen die Interessen von Käfern und Fledermäusen (…) irgendwann einmal zurückstehen« und »bitte machen Sie Urlaub in Deutschland«.
Und schließlich gibt es den Brandenburger Finanzminister, Helmuth Markov, der »als ein Dunkelroter« doch der Regierung für die Ermöglichung von Sofortprogrammen dankt, dann aber das Problem benennt, das die vom Hochwasser Betroffenen wirklich umtreibt: Die Versicherungen wollen nicht zahlen, sofern die Maßnahmen der Regierung zur Verhinderung künftiger Katastrophen nicht ausreichen. »Wir müssen den Flüssen ihren Lauf zurückgeben!«, sagt er inständig, erzählt von der solidarischen Zusammenarbeit mit den polnischen Nachbarn, entwickelt Pläne zur Aufbauhilfe und sieht dabei von aller Parteitaktik ab, ja, ironisiert sie. Als er wieder am äußersten Platz der Bundesratsbank sitzt, kommen Abgeordnete und umarmen ihn als einen Betroffenen.
Ilse Aigner wiegt sich unterdessen hin und her, mustert das Haus, die Tribünen, sogar die Kuppel. Man kann in ihrem Gesicht sehen, wie sie sich abspaltet von ihrem Amt, privat da sitzt, Abschied nimmt, denn es sind auch ihre letzten Tage im Parlament. Jemand kündigt an, »eine Fluthelfermedaille« zu stiften, ein anderer malt rhetorische Kitschpostkarten aus dem Elend. Einig sind die Regierungsvertreter in der Abwehr der Prävention. Zwar hätte die Renaturierung der betroffenen Landschaft eine Milliarde gekostet, die Nothilfe dagegen kostet acht, der Abgeordnete der CSU aber stellt fest, die Renaturierung helfe den Leuten heute nicht, beharrt auf dem Heute und bekommt dafür breiten Applaus.
Heute bin ich schon morgens müde, die Stimmen scheinen alle gleich, mit ihren ähnlichen
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