Das Hohe Haus
suche Kameras, kann keine entdecken. »Da gibt es einen höheren Stuhl, seht ihr den, da sitzt der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin.« Dann erklärt er den Kindern, dass man für Gysi, der nicht so groß sei, das Pult runterfahren müsse, erklärt die Aufgabe der Stenographen, die Zwischenrufe wie »Sie schwindeln!« verzeichnen müssen. Auch dürfe man später nichts in die Rede hineinschreiben, was man nicht gesagt habe. »Gestern habe ich hier eine Rede gehalten, da wollte ich hinterher nur ein einziges Wort ergänzen, aber da wurde mir gesagt, das darf ich nicht.« Unten nimmt währenddessen das letzte Rudelbilden dieser Legislaturperiode seinen Lauf.
Es ist jetzt 14 Uhr 30 , Kunstlicht wird zugeschaltet und schimmert gespenstisch. Georg Nüßlein ( CDU / CSU ) erklärt, dass er die Linken für gefährlich halte, sie seien »Radikale« etc. Die Jugendlichen auf der Tribüne lachen, schütteln den Kopf. Schon sein Dialekt verrät seine Stammeskultur. Warum seine Rede gehalten werden musste, weiß man nicht. Inzwischen sitzt auch ein Säugling im geblümten Strampler auf der Tribüne und schreit einmal in den Raum, ein heimeliges Geräusch, auf schöne Weise milieufremd. Anschließend niest er drei Mal, macht Bäuerchen und Schnute. Jemand spricht von der »Zukunft«. Da zieht das Baby gleich einen Flunsch.
Mit Ernst Hinsken ( CDU / CSU ) verabschiedet sich nach 33 Jahren Präsenz ein Altgedienter des Parlaments. Hinsken, ein gedrungener Klotz, der »vieles mitgestalten« durfte, so sagt er, der den Konsens gesucht und den Streit nicht gemieden habe, rekapituliert politische Geschichte mit beiden Fäusten auf dem Pult. Anschließend steht die Regierungsfraktion geschlossen auf. Hans-Ulrich Klose applaudiert mit weitgeöffneten Armen. Mehrmals will er aufbrechen, entschließt sich aber doch zum Bleiben und setzt sich in die CDU -Bank neben Hinsken, die beiden umarmen sich kameradschaftlich, ehemals streitende Weggefährten.
Zum Thema »Berufliche Bildung« spricht gerade eine Abgeordnete der Linken, materialreich, angriffslustig, manchmal verschwörerisch, mit einer alle Register bearbeitenden Stimme. Einmal sagt sie: »Das Leben ist schön.« Vizepräsident Wolfgang Thierse mahnt: »Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.« Sie tut es, kehrt an ihren Platz zurück und bricht dort stumm zusammen. Jemand beugt sich über sie, andere eilen herbei, schirmen sie ab. Von mehreren Abgeordneten aus dem Sitz gehoben, wird sie auf der Rampe zum Ausgang, nur wenige Meter vom Rednerpult entfernt, zu Boden gelegt. Ein CDU -Abgeordneter spendet Mund-zu-Mund-Beatmung. Die Gesichter, die aus dem Kreis um die Liegende auftauchen, sind verstört, andere tieftraurig. Es ist der Einbruch des Ernstfalls in das Parlament, drastisch wirklich, wenige Minuten bevor sich alle in die Sommerpause verabschieden wollten.
Man hört Atemgeräusche. Eine Stimme gellt durch den Saal: »Aber die Kameras nehmen das jetzt bitte nicht auf!« Alle im Plenum stehen, eine Saaldienerin hält ihre Jacke als Sichtschutz vor die Liegende. Einzelne Abgeordnete wenden sich an Thierse. Man ruft weiter nach der Ärztin. Die Abgeordneten stehen in Grüppchen, jemand fächelt am Boden Luft. Einige postieren sich dichter im Kreis, um den Tribünen die Sicht zu nehmen. Ein Infusionsgalgen wird herbeigeschoben, eine Herzdruckmassage verabreicht. Dann fordert Thierse die Besucher auf, den Saal zu verlassen. Das tun sie, die Schülerinnen und Schüler stellen sich aber gleich an die großen äußeren Scheiben, um von hier aus weiter zu beobachten. Schließlich werden sie von den Saaldienern auch von dort vertrieben. Ein Spalier von Ordnern riegelt jetzt die Glaswand zum Plenum ab.
Die Schüler, die so abrupt den Saal verlassen mussten, langweilen sich jetzt, entdecken in der Wartezone das Regal mit den Bundestagsbroschüren. Einer ruft: »Noch jemand Grundgesetz?« »Grundgesetz hab ich schon«, wird ihm geantwortet. Immer mehr Abgeordnete verlassen den Saal, die meisten mit versteinerten Zügen. Das Protokoll verzeichnet später eine »Unterbrechung von 15 . 41 bis 16 . 06 Uhr« als Folge eines »medizinischen Notfalls«. Die restlichen Reden werden zu Protokoll gegeben.
Anschließend bleibt die Stimmung im Saal bedrückt. Thierse spricht leise, liest bloß noch vom Blatt, abgestimmt wird knapp und kommentarlos. Der Antrag auf Aufnahme syrischer Flüchtlinge wird noch angenommen. Mit belegter Stimme wünscht Thierse dann »Ihnen allen einen
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