Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
Vom Netzwerk:
in sich versunken, rhetorisch unscheinbar, aber ernsthaft bewegt, verschafft er sich Wirkung. In seinem Engagement für Syrien spricht Polenz frei über den Karteikärtchen, die von seinen ratlosen Händen hin und her geschoben werden wie zum symbolischen Ausdruck einer Hilflosigkeit vor der Weltpolitik. Der Zwischenapplaus kommt vor allem von den Grünen, der Schlussapplaus ist allgemein.
    Das Licht hat jetzt das Kolorit einer Vor-Regenstimmung. Die »großen Tiere« haben die Kampfzone verlassen. Der Pulverdampf verzieht sich über einem Plenum, in dem die Gesundheitspolitiker Platz genommen haben, die ihre Reden mit Glückwünschen zur Geburt der Tochter von Gesundheitsminister Bahr eröffnen. Anschließend schlagen sie vom Neugeborenen eine Brücke zur Bedrohung des Ablebens, wechseln von der Sentimentalität des Einstiegs in den Modus rabiaten Angriffs.
    Karl Lauterbach ( SPD ) nimmt den jungen Vater ins Visier und spottet freundlich: »Wenigstens in dieser Hinsicht gelingt es Ihnen, etwas mit Hand und Fuß zu produzieren. Das kann man für die Gesetze nicht unbedingt sagen. Trotzdem Glückwunsch im Namen unserer Fraktion.« Wo er sich der Pflegereform zuwendet, schluckt sein rheinischer Singsang selbst die eigene Erregung und schaukelt den Saal in ein Erschöpfungsphlegma. Er klagt überzeugend, die Kanzlerin habe keine einzige Grundsatzrede zu einem Thema gehalten, das immerhin fünf Millionen Menschen betreffe, er rekapituliert deprimierende Zahlen. Unterdessen wird Bahr, der ausschließlich für diese Debatte seine Vaterschaft hat ruhen lassen, umringt, umarmt, geklopft und geküsst, und auch Lauterbach hebt noch einmal den Daumen.
    Unterdessen hält auch Kathrin Senger-Schäfer ( DIE LINKE ) ihre letzte parlamentarische Rede, und es gelingt ihr in wenigen Sätzen, aus dem Innenleben des Pflegethemas zu sprechen. Plötzlich sieht man Menschen, die sich verwirrt mit dem Putzlappen reinigen statt mit dem Waschlappen. Man sieht die Demenzkranken, die das Waschen überhaupt vergessen. Im Bundestag werden manchmal Dinge öffentlich, die das Gemeinschaftsleben betreffen, eine Erinnerung an das, was das Leben draußen ausmacht. Diese Passagen wirken wie Zooms in existentielle Situationen und sind bisweilen so real, dass sich ein Missverhältnis auftut zwischen dem Anschauungsbericht und der politischen Konsequenz. Es sind die Momente, in denen die Realität die Politik blamiert, weil diese so fern ist.
    Auch für diese Rednerin ist der Applaus allgemein. Die Glückwünschenden strömen hinzu. Auch Minister Bahr kommt von der Regierungsbank, verabschiedet die Kollegin, scherzt mit Lauterbach, der ihm die Hand auf die Schulter legt. Senger-Schäfer aber bleibt anschließend sitzen, klatscht auch der grünen Nachfolgerednerin, lässt sich nicht ablenken, nickt, behält das Thema im Blick wie einen Pfeil, dessen Flugbahn sie verfolgt. Elisabeth Scharfenberg ( B   90 / DIE GRÜNEN ) ruft eben: »Herr Minister, das war reine Drückebergerei.« Nun klatschen alle, die mit Bahr gerade noch herzlich waren, auch Senger-Schäfer, auch Lauterbach.
    Die Rednerin mobilisiert derweil die drei Basis-Instrumente der Dramatisierung – Angst: »Der Pflege droht ein Flächenbrand«, Freude: »Ich freue mich sehr, dass man sich auf breiter Ebene zusammengeschlossen hat«, Hoffnung: »Die Wählerinnen und Wähler werden Sie hoffentlich im September hängen lassen.« Es ist Politik, hat aber die Empfindsamkeit des Groschenromans. An der großen Sitzungstafel stehen zu diesem Zeitpunkt die Worte: »Abschließende Beratungen ohne Aussprache« – das ist parlamentarisch möglich, semantisch nicht.
    Minister Bahr eröffnet mit einem Bericht von seiner »kurzen Nacht«, gekommen sei er trotzdem, so wichtig sei ihm die Pflege. Das Bild des modernen Vaters passt ins Konzept eines Gesundheitsministers, der sein Patronat über die Bedürftigen spannt: »Wir sorgen dafür«, sagt er, »wir wissen«, »wir unterstützen«, am liebsten aber und immer wieder: »Wir sorgen.« Unter all dem »sorgen« werden die Zwischenrufe immer lauter, und immer heftiger wird der Minister. »Ergebnisqualität muss das Ziel sein«, brüllt er gegen die Linke gestikulierend und zeigt die Arroganz des Amtsträgers, der die Opposition dafür verachtet, nichts durchsetzen zu können. Die Zwischenrufe sind jetzt laut und schrill. Gleich drei Parlamentarierinnen keifen und gestikulieren den Minister nieder.
    Wir erleben »eines langen Tages Reise in die Nacht«. Es

Weitere Kostenlose Bücher