Das Hohe Haus
Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.‹ Gestrichen.«
Holger Krestel ( FDP ) produziert den Zwischenruf: »Im Sozialismus haben alle nichts!« Göring-Eckardt fährt unbeirrt fort: »Fast acht Millionen Menschen in unserem Land leben von Niedriglöhnen. Das sind übrigens mehr Menschen, als in den vier größten deutschen Städten (…) zusammen wohnen.« Alleinstehenden mit Vollzeitjob, deklamiert sie, »reicht der Stundenlohn nicht für eine Sicherung des Lebensunterhalts«. Gestrichen. Sie treibt die wirtschaftliche Analyse voran, zitiert den »Economist«. Holger Krestel feuert zwei Zwischenrufe ab: »Ach, davon verstehen Sie doch nichts!« und »Sind Sie sicher, dass das nicht die Bunte war?« Die Unterstellung, Frauen verstünden nichts von Wirtschaftspolitik und bevorzugten Klatschpostillen, geht unkommentiert durch.
Die Verachtung gegenüber den Frauen aber steigert sich in der Verachtung gegenüber den Armen. Man mag von Fall zu Fall streiten, wie aufrichtig ein Engagement für die »sozial Schwachen« im Parlament ist. Aufrichtig aber ist jedenfalls der Hohn, der sich in Zwischenrufen verrät, wo allein die Wirklichkeit der Armut anerkannt werden soll. Die Armen, so suggeriert vor allem die FDP , seien arm nur, um der Regierung zu schaden. Das ist nichts weniger als schamlos und widerspricht jenem sozialen Pathos, das das Hohe Haus sonst so gerne bemüht.
Der von all dem angesprochene Wirtschaftsminister Philipp Rösler ist nicht angesprochen, denn er ist nicht zugegen. Volker Beck stellt für die Fraktion B 90 / DIE GRÜNEN den Antrag, ihn herbeizuzitieren. Vizepräsident Eduard Oswald, selbst CSU , bittet um Abstimmung durch Handzeichen, und etwas Befremdliches geschieht: Obwohl alle Anwesenden sogleich überblicken, dass wegen der schwachen Anwesenheit der Regierungsfraktion diese die Abstimmung verloren hat (»Zweidrittelmehrheit!«, ruft Volker Beck), stellt Vizepräsident Oswald fest: »Man ist sich hier heroben nicht einig.« Gelächter bei der Opposition, Sigmar Gabriel ( SPD ) empfiehlt: »Fragen Sie einmal die Kameraleute!«
Oswald lässt lieber den Hammelsprung durchführen. Dass er sich so wenig zur Unparteilichkeit verpflichtet sieht, wirkt undemokratisch, wird aber akzeptiert wie Gewohnheitsrecht – nur auf den Tribünen nicht. Anschließend kommt Rösler noch rechtzeitig, um zu hören, wie Matthias Zimmer ( CDU / CSU ) erklärt, die ganze Armutsdebatte werde »zu sehr mit Blick auf lediglich materielle Faktoren geführt«. Ich stelle mir diesen Abgeordneten vor, der in seinem Frankfurter Wahlkreis eine Hartz- IV -Familie besucht und ihr erklärt, sie sei in ihrer Armut zu sehr auf materielle Werte fixiert. Er sagt auch, Menschen könnten sich »durchaus bei genügender materieller Grundausstattung als arm empfinden«. Armut kann also auch psychosomatisch, eine Sache der Einbildung sein, sagt er, der Privatdozent. Anschließend zitiert er Jonathan Swift mit einem Satz über die Lüge. Dabei liegt der passendere Satz dieses Jonathan Swift doch auf der Hand: »Man braucht nur das Gesicht derjenigen zu sehen, denen Gott Reichtum gegeben hat, und man weiß, was er von Reichtümern hält.«
Der Zynismus der Rede wird vor der Mimik einiger augenscheinlich Schlechtgestellter auf der Tribüne zunichte. Er verrät auch, dass nicht allein die Geldverteilung ungerecht ist, sondern dass der Neoliberalismus keine Werte anzubieten hat, stattdessen aber der Entsolidarisierung Selbstbewusstsein verleiht. Den Armutsbericht zu beschreiben, als zeige er den Menschen, wie gut es ihnen eigentlich gehe, diese Infamie macht es Sigmar Gabriel leicht. In lapidarem Duktus spricht er mit der Sicherheit des Mannes, der die Fakten und die Erfahrung der Menschen auf seiner Seite weiß. Dabei überblickt er eine historische Spanne von den Vätern des Wirtschaftswunders und der sozialen Marktwirtschaft bis zu jenen Passagen in von der Leyens Bericht, die nach Linksposition klingen. Kern ist bei ihm die »kosmetische Berichtschirurgie«, und wie en passant entsteht dabei das Bild einer »neuen sozialen Frage«, der sich auch die Hartz- IV -Erfinderin SPD neu zu stellen hat.
Katja Kipping (Die LINKE ) wird als Nächste sprechen. Noch hört sie aus der ersten Reihe zu, ergreift das Manuskript, trinkt, hört flüchtig, was ihre Nachbarin sagt. Es wird überraschend leise, als sie anhebt. In ihren abgewetzten Jeans steht sie klein, beteiligt und deplatziert
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