Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
Vom Netzwerk:
können. Zwar ist die Kanzlerin wieder auf ihrem Platz, aber sie redet abgewandt mit denen, die hinter ihr sitzen. Der Besucher darf kein Kaugummi im Mund haben, aber Desinteresse demonstrieren, allen gegenüber, auch jenen auf der Tribüne oder an den Fernsehgeräten, ist für Parlamentarier nicht unschicklich. Trittin redet gut und frei, immer wieder wendet er sich der Kanzlerin zu, aber sie ist nicht mal zu sehen im Rudel ihrer Gesprächspartner.
    »Sie wollen Dioxin im Hühnerei.« Sie taucht wieder auf, ist aber gleich wieder bei ihrem Mobiltelefon. »Sie wollen Pferdefleisch in der Lasagne!« Trittin lehnt jetzt auf dem Pult wie auf einer Theke, seine Hand schwebt im Luftraum und setzt von dort die Nadelstiche: »Sie wollen Antibiotika im Hühnerfleisch subventionieren.« Er redet entlang der Widersprüche einer Politik, die erratisch und unaufgelöst bleiben. »Was macht diese Kanzlerin?« Er zeigt mit dem Finger auf sie. Sie blättert. Die Situation umfasst das Künstlichste, was es in Kommunikationssituationen geben kann: Zwiesprache mit einer Abwesenden, Verletzungen ohne Körper, Beleidigung ohne Adressaten, Appelle ohne Gegenüber.
    Als Johannes Singhammer ( CDU / CSU ) sich anschließend, man weiß nicht warum, für den Gebrauch der deutschen Sprache starkmacht, die er selbst in einer dunkel grundierten bajuwarischen Variante spricht, fühle ich Erschöpfung. Seine Mundart steigert die Glaubwürdigkeit alles dessen, was er zum Agrarischen sagt. Er steht auf der Scholle. Als er aber ausholt: »Es ist richtig, dass die Eierproduktion ein wichtiger Bestandteil der Landwirtschaft ist, aber Rumeiern hat nichts mit guter Landwirtschaftspolitik zu tun«, suche ich die Nassräume. Auf dem Rückweg frage ich die Garderobenfrau, ob sie denn etwas zum Mittagessen bekommen habe. Sie erwidert mit unerwarteter Härte: »Mir sind doch hier im Mittelalter, mir kriegen die Küchenabfälle zu fressen.«
    Im Plenum geht es gerade um »Strukturen für die Zukunft«. Aber darum geht es oft. Man war einmal kurz draußen im Mittelalter, schon wird das Artifizielle drinnen offenbarer: aufgewärmte Emotionen, halbkalte Überzeugungen. Wo Argumente fehlen, treten Standpunkte ein, etikettiert mit »ich«. »Ich bin der festen Überzeugung«, sagt der Redner, und der Hörer fragt: »Wer?«
    Ilse Aigner ist in diesem Augenblick die einzige Zuhörende. Aber jetzt, da die Zahlen kommen, schweift auch ihr Blick in die Kuppel, in die gerade niemand klimmt. »Es ist richtig, dass sie Eierpolitik …« Der Redner spricht mehrmals die Kanzlerin an, die nicht da ist. Aigner hat jetzt beide Hände vor das Gesicht geschlagen. Sie meint es nicht so. Der Redner ist CSU -Urgestein. Vielleicht ist sie ihm bloß ihre Anwesenheit schuldig, aber keinen Gesichtsausdruck. Eine großangelegte Debatte hat sich in ihre Niederungen gesenkt.
    Und schließlich: Es muss Menschen geben, die hier geredet haben, und niemand, wirklich niemand hat sie gehört, denn sie redeten sich in die komplette Unsichtbarkeit hinein. Auf den Tribünen wandte man sich ab, oder die Blicke senkten sich oder irrten umher. Eben klatscht ein Abgeordneter einmal höhnisch. Aber wenn jemand so mit dem Manuskript kämpft wie Bettina Kudla ( CDU / CSU ), dann riecht es die Rotte. »Jetzt klatscht doch mal«, ermuntert Dieter Dehm ( DIE LINKE ) die Fraktion der CDU . Nein, die Rednerin bekommt keine Hilfe. Die Langeweile im Saal verbeißt sich in ihre Gestalt, und Dehm macht den Zampano: »Beifall!« Niemand reagiert. Vielmehr hört man spitzes, höhnisches Gelächter. Die Rednerin havariert, Abkürzungen und Fremdwörter überschlagen sich in ihrem Mund. Schon wenn sie »meines Erachtens« sagt, lachen die Verfolger. Um Ruhe bemüht, legt sie die Hände auf dem Rednerpult ab. Ihre Satzfolgen stottern, wieder dankt sie der Kanzlerin. Das passt immer. Die Regierungsbank ist nun fast leer, die der Opposition immerhin gut besetzt. Nachdem noch rasch ein Entschließungsantrag der SPD abgelehnt wurde, kann auch Sahra Wagenknecht gehen.
    Sie verpasst, wie eine kämpferische Katrin Göring-Eckardt den sogenannten »Armuts- und Reichtumsbericht« der Regierung zerlegt, jenen Bericht, den Ursula von der Leyens Ministerium geschrieben und Philipp Röslers Ministerium geschönt hatte: »Ich sage einmal, welche Sätze Sie streichen wollen oder gestrichen haben: ›Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt.‹ Gestrichen. ›Die Einkommensspreizung … verletzt das

Weitere Kostenlose Bücher