Das Hohe Haus
in einem innenpolitisch fixierten Land gerade niemanden.
Ilse Aigner mustert die Tribüne Person für Person, legt ihren Kopf auf die gefalteten Hände, die Hinterbänkler schwätzen. Die Kanzlerin sagt schon wieder, was sie immer sagt, dass Deutschland stärker aus der Krise herauskommen werde, als es hineinging, das gelte auch für Europa. »Besondere Verantwortung«, sagt sie, »unsere Werte« müssten irgendwie verteidigt werden gegen die anderer Wertebesitzer. Das Kabinett bleibt, während sie spricht, komplett, klatscht aber nicht. So sind nun mal unsere Werte. Die Kanzlerin hat absolviert. Dann berät sie sich, an Rösler vorbei, mit Westerwelle. Man lacht, Rösler niest.
Es folgt der Kanzlerkandidat, es ist eines der letzten parlamentarischen Aufeinandertreffen vor der Wahl. Es lastet eine Bürde auf ihm – nicht die der Kanzlerinnen-Rede, sondern die der Erwartung jener großen Rede, die er auch heute nicht halten wird. Steinbrück spricht unoffensiv, das Kolorit seines Einstiegs ist dunkel. Regierung und Opposition ergänzen sich und spielen eine eher phantasielose Variante von Schönreden-Schlechtreden. Die SPD klatscht, Merkel redet weiter, Westerwelle surft im Internet. Steinbrück kommt mit Daten, das Plenum wird desinteressierter. Die Kanzlerin sitzt diese Rede durch. Aber auf der Regierungsbank ist jetzt Unruhe, die Grüppchenbildung will sagen: Es lohnt sich nicht, das Elend ist nur in der Rede, nicht in der Welt. Wenn es aber anders wäre, würde man auch nicht zuhören, weil es eben das Elend ist, das die Opposition ausbreitet.
In Steinbrücks Sermon überschlagen sich jetzt die Begriffe »Tiefpunkt«, »Depression«, »Rezession«, »bedrückend« und »skandalös«. Man müsste jeden einzelnen fühlen können, aber tut man das? Steinbrück sagt, er habe die »Verelendungserscheinungen« bei seinem »jüngsten Besuch in Athen selber erlebt«. Kein Detail seiner Rede verrät, dass er den Kürzungspaketen für Griechenland ehemals selbst zustimmte, und keines verrät, dass er bei seinem Besuch mehr erfahren hat, als die allabendlichen Nachrichten mitteilen. »Gerade die jungen Menschen sagen dort: Wir haben keine Perspektive mehr.« Sie sagen es ihm? Und mehr sagt er nicht?
Die Kanzlerin redet lieber mit Rösler, Seibert tippt, Leutheusser-Schnarrenberger bespricht sich mit Friedrich, Westerwelle surft weiter, Schröder durchwühlt ihre Handtasche, von der Leyen schreibt handschriftlich. Steinbrücks Trommelfeuer der Pessimismen geht weiter. Wenn er »Frau Merkel« sagt, ist das schon ein Kampfbegriff. Aber sie kriegt gerade ein Papier vorgelegt und reagiert auch auf direkte Ansprache nicht. Außerdem schmeckt die Rede nach Papier. So sagt Steinbrück nicht: »Wir vergessen nicht«, er sagt: »Unser Gedächtnis ist nicht so schlecht ausgestattet, als dass dies plötzlich aus unserer Wahrnehmung verschwinden würde.«
Merkel hat einen Fleck am Revers entdeckt, rubbelt, hebt ihre rote Henkeltasche an, prüft das Display ihres Handys, hält ihren gelben Kuli aufrecht. Kein Blick trifft Steinbrück, der redet und redet, während sie sich wieder Rösler zuwendet. Aigner winkt jemandem im Plenum dezent mit in der Luft trillernden Fingern. Jetzt spricht Steinbrück den Finanzminister an, seinen Nachfolger: »Verehrter Herr Schäuble«, sagt er, und wenig später: »Beenden Sie bitte Ihren Schleiertanz mit Blick auf die Fragestellung, wie eine Bankenunion in Europa aussehen soll.« Schleiertanz. Es ist nicht die stilvollste Metapher, mit der man einem Mann im Rollstuhl begegnen kann.
Merkel schmiegt jetzt die Wange in eine Hand. Sie sieht ihren Konkurrenten immer noch nicht an. Immer heftiger wird der Angriff, immer besser ihre Stimmung. Sie lächelt jetzt in einem fort, inzwischen mitleidig. Auch muss sie schon wieder ins Innere der Handtasche, das Display überprüfen. Anschließend verständigt sie sich mit Kristina Schröder, während ihr neuerlich ein Papier gereicht wird. »Sie sind, Frau Bundeskanzlerin, eine Last-Minute-Kanzlerin«, ruft Steinbrück – ein Prädikat ohne Schrecken. Manchmal klatschen die Grünen lustlos mit. Der Redner kommt zum Schluss. Dass die SPD bereit sei, Regierungsverantwortung zu übernehmen, musste er noch sagen. Eine Sensation wäre das Gegenteil.
Rainer Brüderle ( FDP ), bleich und angegriffen aussehend, setzt auf kontinuierliche Selbstanfeuerung. Steinbrück werde als »diplomatische Neutronenbombe« bezeichnet, weiß er zu berichten, er »ticke auch
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