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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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da. Um Empathie braucht sie nicht zu ringen, das weiß sie. Deshalb wischt sie sich die Betroffenheit aus dem Gesicht mit Zahlen: »Die ärmste Hälfte der Bevölkerung verfügt über ein Prozent des Nettovermögens, und die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung verfügen über die Hälfte der Vermögen.« Der Bahnchef verdient das 86 fache eines Zugbegleiters im Nachtverkehr, der Chef der Deutschen Bank das 447 fache einer Reinigungskraft, die in einer Bank in den neuen Bundesländern saubermacht. Das Kämpferische ihrer Empörung ist noch unabgenutzt. Diejenigen, die zuhören, sind bewegt von der Erinnerung an etwas, das real ist und Armut heißt.
    Matthias Zimmer ( CDU / CSU ) quittiert ihre Ausführungen mit dem Zwischenruf: »Armut für alle!« Kipping wird sich setzen, sich anhören, dass alles, was sie ausführte, Wahlkampf und billige Polemik gewesen sei. Sie wird auch hören, wie Max Straubinger ( CDU / CSU ) breit und pauschal deklariert: »Sehr viele Menschen würden die angebliche Armut in Deutschland liebend gerne ertragen.« Sie erfährt an solchen Rednern auch, wie weit der Weg für Menschen ist, die jung in den Bundestag kamen und »gestalten« wollten. Straubinger röhrt und stammtischlert, er tadelt Peer Steinbrück, lobt Uli Hoeneß und verlässt das Pult zufrieden lachend.
    Man kann die alten Polterer zwar gut unterscheiden von den alerten Jungfunktionären, doch treffen sie sich oft in der kognitiven Dissonanz. Die moralisch Aufrechten haben es am schwersten. Immer müssen sie dasitzen und sich anhören, was ihrem Eintreten für Minderheiten widerspricht.
    Rösler ist also nicht einbestellt worden, war trotzdem da, sagte aber nichts. Von der Leyen blieb länger, hörte zu, nickte, reagierte. Gerade halten die Friseurinnen in Sachsen wieder als Beispiel her. Wissen sie, die im selben Augenblick irgendwo über dem Waschbecken arbeiten, wie oft sie im Bundestag vorkommen?
    Was denken die Besucher auf den Tribünen? Sie hören die Zahlen, es kommen und gehen die Informationen. Schon bei den Interpretationen setzt das Verständnis aus. Das Land kann man oft nicht erkennen, nur die Fraktionen. Vieles ist rhetorische Übung, leicht vorauszuahnen und besonders artistisch immer dort, wo man sich von der Realität am weitesten entfernt. Gerade geht es um die »Zukunftsperspektiven für Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen«. Die Schülerinnen und Schüler erheben sich mit trotzigen Gesichtern, mürrische, ohnmächtige Oppositionelle.

Freitag, 22 . Februar, 9  Uhr
    Die deutsche Fahne flattert waagerecht auf dem Eckturm des Reichstags. Auf dem obersten Sims des Turms: Masken, auf dem First des Übergangstraktes: Amphoren, am Gebäude gegenüber: Putten – dieser ganze mythologische Krempel, dieser historisch kontaminierte Zierrat, der den Repräsentationsgedanken des Parlaments immer neu interpretiert, bringt die Amerikanerin, die zufällig neben mir auf der Bank an der Spree Platz genommen hat, dazu, »Grand Central« zu flüstern, während eine Französin innehält und dreimal hintereinander zu ihrer Begleiterin sagt: »Voilà!« Sie sagt es, als sei sie die Bauherrin.
    Der Fuhrpark ist fast leer. In den Boden eingelassen, findet sich eine bronzene Tafel mit den Worten »Berliner Mauer 1961 – 1989 «. In einem Winkel an dieser nördlichen Flanke des Reichstags steht auch eine schadhafte Mauer aus porösem roten Ziegel. Dieses Stück stammt von der Danziger Lenin-Werft, Lech Walesa kletterte ehemals hier hoch, um den Arbeiterstreik zu organisieren. Mit dem Geschenk dieses Fragments unterstrich die Regierung Polens die Beziehung zwischen der »Solidarność«-Bewegung und der »Stillen Revolution« vor der deutschen Wiedervereinigung. Zwei Staaten schenken sich Mauern.
    Im Treppenhaus steigt Ilse Aigner ihrem Auftritt vor dem Plenum entgegen. Der Verbraucheralltag greift in die Redeordnung des Bundestags ein. Denn auch wenn heute alle angetreten sind, die Beschlussempfehlung der SPD zum Ausbau der »Modernen verbraucherbezogenen Forschung« zu besprechen, kann die verantwortliche Ministerin ihre Stimme nicht erheben, ohne der unerfreulichen Aktualität ihrer Themen Tribut zu zollen: »Millionen von Verbraucherinnen und Verbrauchern in ganz Europa«, so sagt sie denn auch gleich zu Anfang, »wurden verunsichert; denn als Rindfleisch deklariertes Pferdefleisch ist in verarbeiteten Lebensmitteln gefunden worden«.
    Sie weiß es selbst: »Ob Dioxinskandal bei Futtermitteln, ob die Tragödie um

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