Das Hohe Haus
man Bravo-Rufe.
»Showdown im Bundestag« titelt später die SZ online. Noch sieht es nicht danach aus. Man hat jetzt eine Stunde debattiert, das Resultat ist: keine Bewegung, viele Schlagwörter, zahlreiche Rechtsunsicherheiten. Man hat das Gefühl, auch bei den Parlamentariern: Viele zeigen sich nur. Der Abgeordnete will zwar »entscheiden«, trägt aber meist Entscheidungen nur mit, die wetterleuchtend über den Horizont kommen. »Dass ausgerechnet der Axel-Springer-Verlag eine Leistungsschutz-Infusion braucht, um seine Journalisten anständig zu bezahlen«, bemerkt Tabea Rößner ( B 90 / DIE GRÜNEN ), »kann ich mir bei einem Gewinn von 590 Millionen Euro alleine 2011 nur schwer vorstellen. Das Gesetz wird heute allein zur Gesichtswahrung verabschiedet. Ich hoffe, das reicht, um sich bis auf die Knochen zu blamieren.« Die, die von der Blamage hätten erzählen können, sind die Nutznießer.
Angela Merkel betritt den Raum, wendet sich aber gleich an Peter Hintze. Präsident Lammert ermahnt die Abgeordneten zur Ruhe. Aber auch die Kanzlerin hört nicht zu, und wenn, dann Hintze. Thomas Silberhorn ( CDU / CSU ) redet und redet, der Saal kennt kein Erbarmen. Niemand scheint bei der Sache, und versuchte man es, es wäre vergeblich. Der Lärmpegel ist zu hoch. Jetzt scheint selbst Lammert hilflos. Auch die Kanzlerin hat zehn Minuten nach Betreten des Raums noch keine Minute zugehört. Wir auf der Tribüne schauen uns an. Man könnte denken, jeder hier oben habe ein entschiedeneres Verhältnis zum parlamentarischen Reden als die da unten. Die Stimmkärtchen werden gereicht. Einzelne Netzpolitiker der schwarz-gelben Regierung wollen gegen das Leistungsschutzrecht stimmen.
Die Besucher hinter mir ärgern sich lautstark über die Unruhe im Saal. Die Frau neben mir macht ein Handyfoto, was ihr untersagt wird. Einige der Antragsteller unten haben zuvor im Abstimmungsprocedere gar nicht mehr die Hand gehoben, so wenig glauben sie selbst an ihre Erfolgsaussichten. Um 10 Uhr 42 ist der Spuk vorbei. Lammert ermahnt die Abgeordneten erneut, ihre »sonstigen« Gespräche außerhalb des Saals zu führen. Von der Besuchertribüne flammt zu diesen Worten erstmals – und zum einzigen Mal in diesem Jahr – Applaus auf. Da staunt selbst der Präsident. Nie war die Zustimmung so groß wie im Augenblick, da das Parlament ermahnt wurde, Parlament zu sein. Die Ergebnisse der Abstimmung zum Leistungsschutzgesetz werden wenig später mitgeteilt: 293 Ja-, 243 Nein-Stimmen, drei Enthaltungen. Es ist angenommen.
In der anschließenden Debatte um Renten und Altersarmut stoßen die saftigen Einzelfallbeschreibungen wieder hart an die Statistiken. Die Linke kommt mit exemplarischen Fällen, entwaffnenden, weil sie aus der Realität stammen. Andere werden sie mit dem Totschlagargument »populistisch« nennen. Aber wenn es so ist, dann leben Menschen eben populistisch, und sie erscheinen hier mitten in einer Arbeit am Vergeblichen. Ihre Geschichten wirken wie emotionale Zusatzstoffe. Also bleiben die Veteranen des parlamentarischen Geschäfts unbeeindruckt.
In der Folge löst sich das Thema in Terminologie auf. Der ganze Himmel ist überstrahlt von Leuchtraketen wie »Erwerbsbiografien«, »Rentenüberleitungsgesetz«, »Vorwegabzug der demografiefesten Reserve«, »Versorgungssystemen« aus »Zuschussrente«, »Lebensleistungsrente«, »Solidarrente« und »Erwerbsminderungsrente«, »Rente nach Mindestentgeltpunkten« in unserem »Solidarsystem«, seiner intendierten »Generationengerechtigkeit«, die auch eine Folge ist des »Äquivalenzprinzips« im »Rentendialog« an der »unteren Auffanglinie« »unseres Alterssicherungssystems«. Zum Trost sei gesagt: Es ist wohl wahrscheinlicher, dass jemand Rente bekommt, als dass er versteht, warum.
Aber wenn dann Bettina Kudla ( CDU / CSU ) an das Rednerpult tritt und sagt: »Lassen Sie mich als letzter Redner der Debatte einige wichtige Punkte zusammenfassen«, dann möchte man sie als erste Rednerin der nachfolgenden Debatte zum Internationalen Frauentag nominieren. Und nicht nur wie Rita Pawelski ( CDU / CSU ) sagen: »Liebe Mädchen, sucht euch bitte auch einmal andere Jobs! Wählt Männerberufe!«, sondern auch: Wählt erst mal Rednerinnen, die sich selbst nicht »Redner« nennen.
Das ist kein Sophismus. In der Antike war die rhetorische Bildung für einen Politiker unabdingbar. Heute hält man sich für »authentischer«, wenn man sie ablehnt. Aber das »Authentische«
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