Das Hohe Haus
bringt die Person ungefiltert zur Erscheinung, und wer im Parlament kann sich das leisten? Es ist so viel geballte Intelligenz im Raum: in der Architektur, im Design, in der Verfeinerung der Rituale, der Rhetorik, im angesammelten Sachverstand, auch in der Debatte. Doch erscheint das Unwillkürliche der Politiker-persönlichkeit manchmal wie ein unbearbeiteter Rest, und die Brüche zwischen der »Arbeitskommunikation« und der »Darstellungskommunikation« führen bisweilen zu einer Entfremdung von den Sachverhalten, den persönlichen Interessen, dem eigenen Ich.
Mittwoch, 13 . März, 13 Uhr
Die Papstwahl hat gestern begonnen. Der erste schwarze Rauch trat zutage. Rosemarie Fendel ist tot. Die parlamentarische Woche wird wieder mit der Befragung der Bundesregierung beginnen. Das Parlament, denke ich, während ich auf den kolossalen Bau zugehe, will nicht nur das Volk, es will sich auch selbst repräsentieren. Allein die Sitzordnung in diesem »Fraktionsparlament« ist voller Herrschaftssymbolik. Sie folgt dem Vorbild der Französischen Nationalversammlung, also einer ungefähren Anordnung der Fraktionen von links nach rechts. Demnach gäbe es kein Rechts von der FDP .
Die Herrschaftsinsignien sind zu Schrumpfformen reduziert: die verlängerte Lehne am Stuhl der Kanzlerin, der erhöhte Sitz des Sitzungsvorstands, zusammengesetzt aus dem Präsidenten mit zwei Abgeordneten als Schriftführern. Der Präsident ist auch disziplinarische Instanz. Er teilt die Reihenfolge der Redner mit, entscheidet über die Zulässigkeit schriftlich eingereichter Fragen, kann das Wort entziehen, die Redner des Saales verweisen, sie für maximal dreißig Sitzungstage sogar ausschließen, kann Rügen erteilen, eine Sitzung unterbrechen oder aufheben. Er hat die Glocke zur Hand und kann als letztes Mittel seinen Stuhl verlassen. Die Kritik an der Amtsführung des Präsidenten, der dabei vom Ältestenrat unterstützt wird, gilt als schwerer Ordnungsverstoß.
In den Fünfzigern hieß das Parlament nach Wolfgang Koeppens Roman »Das Treibhaus«, in den Neunzigern hieß es ohne Roman »Das Raumschiff«. Auch die Rhetorik hat sich gewandelt. War die Adenauer-Ära noch eher belehrend und schulmeisterlich, ist seither eine Zunahme des Polemischen feststellbar, auch ein effektvolleres Werben um Aufmerksamkeit. Auch haben die Fragetypen an Vielfalt gewonnen. Die Abgeordneten brauchen die Intervention, die Zwischenfrage, die rhetorische Frage, die Suggestivfrage, die Scheinfrage, die bestellte Frage oder persönliche Erklärung, und manchen Zwischenruf befeuert die Hoffnung, er könne den Redner verunsichern, entblößen. Manchmal ist eine Rede am besten ex negativo verstehbar: durch alles, was sie meidet – die Festlegung, die Kritik, die Pointe, die persönliche Meinung. Sie ist ja auch Auftragsarbeit im Dienst einer Partei, einer Fraktion, eines Ausschusses und exponiert die Sprecherinnen und Sprecher genug, um sie für Anschlussverpflichtungen zu qualifizieren.
Man hört sie und denkt unwillkürlich an die Geschichte derer, die auf den Schiffsschnabel, die Barrikaden, die Kanzel, auf Apfelsinenkisten gestiegen sind, um dem Ideal der freien Rede zu huldigen – und dann das: Die Idee ist eine hohe und scheint doch nicht blamierbar. Keine Unterstellung ist zu niedrig, kein Vorwurf zu drastisch, kein Nachweis zu entlarvend, kein Anwurf zu ehrenrührig. Gerade im Parlament, wo die Fallhöhe am empfindlichsten sein müsste, existiert sie kaum. Alles ist a priori legitimiert. Es werden keine Reden gehalten, von denen sich der Saal nicht gleich erholen würde. Kein Argument ist zu schlicht, keine Fälschung zu dreist, um es nicht in den Bundestag zu schaffen. Ja, vielleicht darf die parlamentarische Rede gar nicht zu gut sein, gilt doch der Volksredner als Agitator, der Rhetoriker als Propagandist, der Überzeuger als »Rattenfänger«.
Man hat es also einerseits mit dem wohl bedeutungsvollsten Ort öffentlichen Redens zu tun, zugleich setzt sich in diesem Reden immer wieder das Prinzip der Verachtung durch: ein Triumph des Behauptungswillens, geeignet, einen Redenden in seiner Nichtigkeit zu enthüllen. Weil das so ist, empfinden es die Zuschauer als Verrat, wenn die Kombattanten gleich nach dem Angriff beieinander stehen, lachen und unzertrennlich wirken wie Freunde und Widersprüche.
Heute vollzieht das Parlament in seiner Fragestunde das bekannte, abgestorbene Ritual: Die Fragen tendieren zum Leitartikel, die Antworten zum Schuldigbleiben
Weitere Kostenlose Bücher