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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Noch in der Nacht überziehen sie alle gerne ihre Redezeit, sagen nicht einfach »Nutztiere«, zählen sie lieber einzeln auf. Die Anwürfe kommen jetzt flau. Geschrieben wurden diese Reden am Tag, im Wachzustand. Jetzt aber scheint auch die Empörung so müde wie die Reaktion. »Das müssen wir miteinander besprechen«, sagen sie, aber besprechen tun sie es hier nicht. Noch um 21  Uhr  35 trifft eine neue Schulklasse ein. Sie kommt gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass die Mehrheit der CDU -Abgeordneten dem SPD -Redner den Rücken zudreht.
    Ich habe lange Phasen erlebt, in denen kein einziger Abgeordneter bei dem war, was vorne gesprochen wurde. Da beugten sich Männer lachend über Displays, feixten mit dem Rücken zum Podium, ballten sich in Grüppchen. Nicht nachlässig war das, sondern offensiv vorgetragene und durch Rufe ins Plenum unterstützte Missachtung. Die Schulklasse, die hier auch nach 22  Uhr noch sitzt, hat auch schon bemerkt, dass man Schülern weit mehr Disziplin abverlangt als Volksvertretern. Nur die Letzteren sehen gerade nach ADS aus. Der Redner kämpft eben gegen die Syntax und für die »Auenwälder«. Nur den letzten Kampf kann er noch gewinnen. Dann geht er und verbeugt sich vor Vizepräsidentin Petra Pau wie ein Kapellmeister. Das war die »Flusspolitik«, die die Linken auch mit Blick auf den Klimawandel beantragt haben. Aber was kann Flüssen Schlimmeres passieren, als in einem Antrag der Linken vorzukommen? Also abgelehnt.
    Spät ist es geworden. Die Reden zu den Tagesordnungspunkten »Anforderungen an Notfallsanitäter«, »Zusammenarbeit mit China«, »Änderungen im Soldatengesetz«, »Planfeststellungsverfahren bei Großprojekten«, »Rechte indigener Völker stärken« werden zu Protokoll gegeben. Im Eildurchmarsch zur Beschlussempfehlung finden deshalb keine Beratungen mehr statt. Die Handzeichen fliegen hoch, Zwischenrufe bleiben aus. Die Mechanik des Fraktionszwangs ist freigelegt. Alles wird unbesprochen en bloc entschieden. Der Tag war lang, draußen warten die Limousinen. Die Abstimmungen kommen jetzt so rasch hintereinander, dass man nicht mal mehr schwätzen kann. »Syrische Flüchtlinge nicht im Stich lassen, Diplomatie stärken«? Abgelehnt!
    21  Punkte werden so durchgepeitscht. Es zeigt sich das Skelett der Formalia hinter der »parlamentarischen Debattenkultur«. Kaum stimmt jemand anders als erwartet, hört man den Zwischenruf: »Was ist da los?« Vorbei fliegen Doping, Filmförderung, Gebührenrecht des Bundes. Aber ich erinnere mich noch, wie Heidrun Dittrich ( DIE LINKE ) in der Debatte über die Menschenrechte der Alten mit Stéphane Hessel geschlossen hatte, der vor zwei Tagen mit 95  Jahren starb: »Er überlebte die Deportation durch die Gestapo und blieb aktiv. Er schrieb ›Empört euch!‹, setzte sich für Menschenrechte und die Überwindung der Armut ein. Er schlug vor, das Gemeinwohl vor die Interessen des Großkapitals zu setzen. Das sollten wir auch tun.« Dies war das einzige Mal, dass im Parlament eine Erinnerung an die außerparlamentarische Opposition aufschien.
    Zuletzt dankt Petra Pau denen, die zugegen waren »bei unserem Ritt durch beinahe jedes Feld der Politik«, sie dankt »für die gute Zusammenarbeit. Die Sitzung ist geschlossen«. Einzelne verabschieden sich mit Umarmung, streben in Fraktionsgrüppchen hinaus. Saaldiener räumen Aktenordner, Gläser, Untertassen, zurückgelassene Utensilien ab. Es wird leise. Ein letzter Seufzer geht durch den Saal. Der Parlamentsassistent kommt heran und sagt höflich: »Sie müssten dann jetzt auch diesen Saal freimachen.« Die Kamerafrau im Aufzug stöhnt nur ein einziges Wort: »Langweilig.« Finde ich nicht. Da schweigt sie endgültig. Es ist 22  Uhr  45 , im Vestibül putzen rotierende Bürsten die Schuhe von Peter Hintze, während er telefoniert.

Freitag, 1 . März, 9  Uhr
    Barack Obama kämpft mal wieder um den Haushalt, Clint Eastwood bekennt sich zur Homo-Ehe, Helmut Kohls Söhne greifen mal wieder die neue Lebensgefährtin des Vaters an. »Roncalli«-Chef Bernhard Paul attackiert Peer Steinbrück: Es sei eine Beleidigung für die Clownsehre, mit Berlusconi verglichen zu werden.
    Als ich eintreffe, will die Plenarsaalassistentin wissen, ob ich heute Nacht hier geschlafen habe. Eine Viertelstunde vor der Eröffnung der Sitzung wird die Tribüne von einem graubärtigen Kollegen auf die Themen vorbereitet. Schulklassen und Senioren stimmt er auf Urheberrecht, Google, Internet ein, der

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