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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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während Steinbrück hereinschlendert. »Das ist wirtschaftlich Unsinn, was Sie da produzieren«, sagt Heil, wohl über Rösler. Steinbrück klatscht sofort, auch wenn er noch nicht im Raum war, als Heil erläutert hatte, welcher Unsinn da gemeint war. »Sie müssen Ihre Hausaufgaben machen«, sagt Heil. Franz Müntefering sitzt ganz ohne Papiere, mit gefalteten Händen hinten. Dass er sich des Klatschens enthält, könnte so gut Ungehorsam sein wie Weisheit.
    Wieder mal schimmert die Zukunft in Pastell. Woher sie bloß ihren guten Ruf bezieht? Alles galoppiert hinein in einen offenen Horizont, den manche als Zeitenwende feiern, dabei geht es allenfalls um einen Regierungswechsel. Wer noch an ihn glaubt, klatscht. Steinbrück und Steinmeier sitzen in einer hinteren Bank, Steinbrück wie der Bundesadler, mit ausgebreiteten Armen auf den benachbarten Lehnen, Steinmeier eingedreht in der Einflüsterer-Position, wie im Hintergrund eines niederländischen Wirtshausgemäldes. Was Szene war, wird gerade Allegorie.
    Der Regierungsredner vorn lobt gerade das Handwerk, warum nicht, die Lehrlingsarbeit, die qualifizierten Zuwanderer, die »guten Leute«, wegen derer wir trotzdem »nicht einfach die Schleusen aufreißen« dürften, »denn wir brauchen keine Zuwanderer in unsere Sozialsysteme«. Das taugt als Umschreibung dessen, was früher »Das Boot ist voll« hieß – eine Formulierung, die seit den vielen toten Flüchtlingen vor Lampedusa vermieden wird.
    Es ist halb zwölf, die Vitalitätskurve senkt sich. Der Finger des Redners steht mahnend in der Luft und wird von der Sonne getroffen. Die weiße Hemdbrust flammt auf, so hell reflektiert das Märzlicht, während er gerade etwas als »kompletten Schwachsinn« bezeichnet. Da ist die Beleuchtung wieder einmal raffinierter als die Rhetorik. Gregor Gysi hebt an zum Verriss der »Agenda 2010 «, dem »größten Sozialabbau«. Denn mögen auch bessere Beschäftigungszahlen verzeichnet werden, es sei keine einzige Arbeitsstunde hinzugekommen, seit der Zeit, als die Arbeitslosigkeit noch über fünf Millionen lag und Kohl regierte. Er breitet Zahlen aus, blamable, demaskierende, er hat es oft getan. Es widerspricht auch niemand, und Zahlen sind hier ja auch nur die Startrampe für Geschichten von prekär oder befristet Beschäftigten mit Halbjahresverträgen und Kinderwunsch.
    »Wenn Franziskus die Agenda 2010 kennen würde«, ruft Gysi den Christdemokraten entgegen, »wäre er strikt dagegen; er stünde an unserer Seite.« Vereinzelte Proteste. Ein Sozialdemokrat nennt die Bemerkung ein »starkes Stück«, und Gysi quittiert die Proteste mit einem gutgelaunten »Ich wollte, dass Sie mal Reaktionen zeigen«. Erstmals sieht man jetzt auch auf den Zuschauertribünen lächelnde, aufmerksame Gesichter. Das Leben der Familien, das Schulessen, die Gesundheit kommen vor. Philipp Rösler hört es mal lachend, mal kopfschüttelnd, einmal hält er sich pantomimisch die Ohren zu. Die CDU fehlt jetzt fast komplett. Die Währung parlamentarischer Missbilligung heißt Aufmerksamkeitsentzug.
    Birgit Homburger ( FDP ), die auf dem Parteitag eben noch Deklassierte, verwandelt ihre Abstimmungsniederlage in Angriffsenergie. Ihr rotes Jackett, ihre extrovertierte Gestik, die hohe, dünne Stimme – alles an ihr schreit nun nach Beachtung, und selbst der Bundesadler wirft ihre Stimme metallisch zurück. Die Wirtschaftspolitik von Rot-Grün, findet die Rednerin gerade, sei »an Schizophrenie nicht zu überbieten«. Dass die Pathologisierung des Gegners im Parlament so oft als Argument herangezogen wird! Wie auf dem Pausenhof: alles Bekloppte. Da es sich bei der Schizophrenie aber um eine Krankheit handelt, die man so wenig steigern kann wie die Masern, havariert hier zunächst mal das Bild. Die Präsidentin hinter Homburger hebt das Gesicht in die Sonne, verharrt so. Eine Abgeordnete im Plenum zeigt der Rednerin gerade einen Vogel. Renate Künast berät sich stehend, das Deckleder ihres rechten Schuhs am linken Hosenbein polierend.
    Homburgers Furor steigt von der hohen Tonlage zum Sinuston. Er ist erreicht, wo sie der SPD »schamlose Klientelwirtschaft« vorwirft. Jemand muss jetzt »Hotelpartei« rufen. Es geschieht. Jemand anderes muss dagegen Steinbrücks »Redner-Honorare« ins Feld führen. Auch das geschieht. Es gibt immer Funktionen, die von Menschen Besitz ergreifen, und diese wissen dann gleich, was zu rufen, zu meinen, zu behaupten ist. Der Protest wird jetzt flammend. Alle versuchen, die

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