Das Hohe Haus
Rednerin niederzubrüllen. Aber die ist ganz rasende Medea. »Ja, Herr im Himmel: Was machen Sie eigentlich in Deutschland?«, fragt sie die Opposition. Wenig, muss man ehrlich antworten, denn es ist nun mal die Regierung, die macht, wenn sie macht.
Allmählich hört man nur noch Floskeln, alle einzeln herausgestanzt. Die Rednerin breitet die Arme aus, schlägt das Pult, sichelt mit der Handkante durch die Luft und erreicht die Klimax der Erkenntnis: »Es gibt einen Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Rot-Grün.« Es sind diese rhetorischen Figuren, die dazu führen, dass man das Parlament unterschätzt, dass man keine Zeit mit ihm verbringen mag. Wenn die Tatsache, dass sich im Parlament Parteien überhaupt unterscheiden, vom Parlament selbst gefeiert wird, ist auch dies ein Dekadenzphänomen. Es gibt Reden, die setzen Geschmacksverstärker zu, und es gibt solche, die bestehen aus nichts als Geschmacksverstärkern. Und so lässt sich Homburger in der ersten Reihe nieder, schüttet sich das Restwasser aus ihrem Glas geradezu aggressiv in den Mund und genießt ihre Empörung als Folge geglückter Selbstentzündung.
In einer der hinteren Reihen des Plenarsaals verabschieden einander gerade Gysi und Ramsauer, ganz gentlemanlike mit Händeschütteln. Dann kehrt Gysi zurück auf seinen Angriffsplatz.
Am Pult feiert Ernst Hinsken ( CDU / CSU ) gerade seine Heimat in bayerischer Breite. Gedrungen über dem Manuskript hängend, dann O-beinig vor- und zurückschwankend, jedes Wort ablesend, sagt er Dinge wie »alles, was Sie fordern, machen wir schon lange«. Es ist eine dieser Reden, denen wirklich niemand mehr zuhört, und als er ermahnt wird, zum Ende zu kommen, da muss er doch noch schnell sagen: »Wir gestalten die Zukunft.« Es kommt wie Schluckauf.
Vielleicht sollte man denken, dass sich im Laufe der Jahrzehnte die rhetorischen Formeln verfeinert hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie sind Piktogramme geworden.
Das Nachschlüsselwort, geeignet, alle anderen Werte zu übertrumpfen, heißt »gemeinsam«. Weil man in Wirklichkeit weniger gemeinsam macht als gegeneinander, appelliert man dauernd an das Unmögliche: das Gemeinsame, das in hoher Dosierung auch im »Gemeinwohl« enthalten ist. Für die Regierungskoalition ist der Satz »Wir leben in einem schönen Land« schon ein politischer Satz, weil er sich auf ein Glück bezieht, das vermeintlich der Staat schenkt.
Im Parlament geht es um alles. Deshalb muss alles gemeint und belastbar sein. Deshalb ist das Uneigentliche, die Ironie etwa, bedenklich. Zugleich aber ist hier so vieles uneigentlich: die Übererregung, die gespielten Feindschaften, die fingierten Gefühle, die felsenfesten Überzeugungen. Der Nachvollzug einer Parlamentsdebatte setzt deshalb eine Rezeption auf mehreren Ebenen voraus. Dass diese Debatte allerdings im Ernst, im »hohen Ton«, in der Sachauseinandersetzung ihr bestimmendes Element haben soll, erschließt sich in der Gesamtschau der Debatten nicht.
Kaum verlagern sich diese auf Felder, die nicht die Geldverteilung betreffen, kaum wenden sie sich etwa – wie an diesem Tag – der Frage zu, wie Deutschland mit entdemokratisierenden Prozessen in Ungarn umgehen soll, kann man das Potential der öffentlichen Debatte auch als Form bestaunen. Plötzlich treten nämlich fast alle sachlich, manchmal beteiligt, unpolemisch, gleichwohl dezidiert und mahnend, aber nicht bevormundend auf und stellen sich der Frage, was eine »Wertegemeinschaft« unter dem Dach Europas sein könnte und müsste. Nur eine einzige Debatte nach der weitgehend kleinlich und verletzend geführten Auseinandersetzung um Wirtschaftsthemen ist das Parlament in der Lage, etwas so Immaterielles wie die Erosionsprozesse der Menschenrechte in Europa zu spiegeln und Themen zu behandeln, die an keinem anderen öffentlichen Ort mit diesem Sachverstand diskutiert werden. Hier ergibt sich sogar die Gelegenheit, einen Satz von Klaus-Michael Bogdal zu zitieren, der keinen Widerspruch findet: »Die Fähigkeit zur Entzivilisierung ist den europäischen Gesellschaften nicht abhandengekommen.« Warum sollte diese Fähigkeit ausgerechnet vor den Parlamenten haltmachen?
Wir gehen in den Abend mit einer Tour de force der Themen. Man streitet für und wider: »eine bessere Bildungssituation weltweit«, die »Verkehrsinfrastruktur«, Kaffeefahrten, die Digitalisierung in der Rechtsprechung, die Beamtenbesoldung, die Unterstützung für die Giftgasopfer von Halabdscha, die Stärkung der
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