Das Hohe Haus
Rechte von Beschuldigten in Strafverfahren, die Ächtung von Folter, das »Professorenbesoldungsneuregelungsgesetz«, die »bessere Krankenhauspflege durch Mindestpersonalbemessung«, die »Emissionsminderungsmöglichkeiten der Mobilfunktechnologie«, die Ausrichtung des »Kindernachzugsrechts am Kindeswohl«.
Es ist dunkel geworden. Die Zwischenrufe kommen nur mehr schwach und selten wie die letzten Vogelrufe. Die meisten Reden werden zu Protokoll gegeben. Die wenigen Verbliebenen lässt Vizepräsident Wolfgang Thierse wissen: »Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine freundliche Nacht.« Es ist 21 Uhr 28 .
Freitag, 15 . März, 9 Uhr 01
Der Geruch der Spree steht heute zwischen den Parlamentsgebäuden, den Gerüsten und Baukränen der Erweiterungsbauten. Auf der einen Seite befindet sich diese hohe schmale Fußgängerbrücke, die der Volksmund »die höhere Beamtenlaufbahn« nennt, auf der anderen Seite, hinter der Brücke beim » ARD -Hauptstadtstudio«, die Fassade, auf die man eine Menschenpyramide gemalt hat samt dem Slogan »Stimmen für den Mindestlohn«. Dunja Hayali vom »Morgenmagazin« trinkt in der Trainingsjacke einen Kaffee an der Straße. »Noch auf oder schon?«, frage ich. »Noch«, sagt sie.
Hinter der Plexiglasscheibe, in die der israelische Bildhauer Dani Karavan die Artikel des Grundgesetzes geprägt hat, spiegeln sich die Abgeordnetenbüros, die Baustellen gegenüber. Einzelne Angestellte rauchen auf dem Balkon und blicken auf die Jogger. Wir hatten noch nicht viel Sonne in diesem Jahr. Ein Junge in grüner Kapuzenjacke liest seinem Kumpel den Artikel 1 vor, und weil der andere »cool« erwidert, setzt er zur Lektüre des zweiten an. Allerdings kommt der Vorleser jetzt ins Stocken, so stark ist die Spiegelung der Gerüste von der Großbaustelle gegenüber.
Vielleicht war das die Vorstellung des Künstlers: Ein Grundgesetz, das unter bestimmten Lichtverhältnissen kaum entzifferbar ist, eines, in dem sich die Widerspiegelung der wirklichen Welt als Störung des reinen Textes entpuppt und sich die Realität über den Text legt? Dann ist hier alles symbolisch, auch, dass die neunzehn Artikel nur lesbar sind, wenn die Sonne, das Licht der Erkenntnis, direkt darauf fällt. Jetzt bleiben auch andere, Versonnene stehen und werden versonnener.
Schiffe gleiten vorbei. Sie bringen Musik mit. Die grünen Netze vor den Rohbau-Fassaden schweifen bauchig hin und her. 620 Abgeordnete zählt dieses Parlament, verteilt auf 5660 Büros, fast alle Gebäude im Umkreis sind dem Parlament zugeordnet. Im Himmel fünf deutsche Flaggen und zwei Europas, Kondensstreifen über und über, Fensterputzer auf den Gesimsen, Passanten, die sich mit erhobenen Tablets wechselseitig fotografieren.
An der Absperrung vor dem Hauptportal hat jemand vier rote Grableuchten abgestellt. Ein vertrockneter Blumenstrauß liegt dabei. Woran das Ensemble erinnern soll, weiß hier niemand. Es liegt da als ein Gedenken an das Gedenken. Es gibt Gründe genug. Nicht weit von hier warten auch die Rikschafahrer, die Besucher streunen. Sie tragen Wintergarderobe. Der gelbe Bus 100 fährt eine Werbung mit dem Gesicht von Ulrich Deppendorf spazieren: »Wir sehen uns im Studio oder sonntags um 18 Uhr 30 . Bericht aus Berlin.« Der Mann am Würstchenstand wütet, dass er dies alles bezahle, den Reichstag, die Abgeordneten, »den ihren Fuhrpark«, »den ihren Deppendorf auch«.
Nicht aber den Mauerfriedhof, eine improvisierte kleine Anlage, eine selbstgemachte Gedenkstätte in Zeichen und Tafeln. Fünfzehn hölzerne Kreuze wurden errichtet und beschriftet, das erste zum Mauerbau, das letzte für Chris Gueffroy, den letzten an der Mauer Erschossenen. Man hat all dem Informationstafeln beigegeben. Gedankt wird für einen Spendenscheck von hundert Mark, »für dessen Einlösung die Bank 14 Mark 50 einzog«. Eine Tafel richtet sich gegen »das rote Berlin«, das die Blumenkübel entfernte, eine andere gegen »Hugendubel«, weil man sich dort geweigert habe, eine im Selbstverlag produzierte Lebensgeschichte zu verkaufen, während das Kochbuch von »Stasi-Wolf« Erfolge feiere. Es finden sich auch Hinweise auf andere verbotene oder nicht lieferbare Bücher. In diesem Winkel sammelt sich mehr Volkszorn.
Präsident Lammert eröffnet die 229 . Sitzung des Bundestags in der Hoffnung, »dass sich im Laufe des Vormittags die Regierungsbank noch teilweise füllt«. »Ich erteile dem Finanzminister das Wort, der im
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