Das Hohe Haus
widrigen Umständen fleißig gearbeitet haben. Man muss es mit eigenen Augen gesehen haben: Unter Wasser, in dieser Brühe, diesem Schlick, sieht man nichts.«
Eben, das Ministerauge reicht bis in den Schlick der Schleuse von Brunsbüttel und darüber hinaus in Zonen, wo niemand mehr klar sieht. Was man in der Debatte dagegen beobachten kann, ist die Schwäche der parlamentarischen Selbstkritik. Da gesteht Staatssekretär Hans-Joachim Otto auch Versäumnisse seiner Partei ein, da moniert Valerie Wilms ( B 90 / DIE GRÜNEN ) parteiübergreifend, es werde »gebasht« und »aufeinander eingeschlagen«, »worum es aber eigentlich geht«, werde »dabei ziemlich verdrängt«. Und wie lautet der Zuruf von der FDP ? »Aber nicht von uns!«
Zu einer parlamentarischen Arbeit, die dem Journalismus nicht die alleinige Hoheit der Kommentierung überließe, müsste Selbstkritik gehören wie ein fortlaufender Kommentar. Sie wird vermieden aufgrund der schlichten Überzeugung, nur eine unfehlbare sei eine wählbare Partei. Die Popularität der Selbstkritik ist in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft angekommen, nicht im Parlament. Aber dafür endet diese Aktuelle Stunde wenigstens mit latenter Ironie: »Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Kammer, auch Sie müssen bitte zum Schluss kommen. Sie müssen das an anderer Stelle fortsetzen. Hans-Werner Kammer ( CDU / CSU ): Frau Präsidentin, das ist so spannend. Vizepräsidentin Petra Pau: Ja, ich bin fasziniert.«
Donnerstag, 21 . März, 9 Uhr
Alles ganz ruhig. Zum Frühlingsanfang ist Schnee gefallen. In der Nacht hat Zypern einen Plan B vorgelegt. In den Medien spielt auch heute das Parlament keine Rolle, aber die Ausschüsse, Konferenzen, Brüssel, die gedruckten Interviews und die Talkshow-Auftritte.
Im Hotel schaue ich mir das Reichstagsgebäude auf einer Aufnahme von 1900 an, ein Foto mit der Feinstruktur eines Kupferstichs. Es sieht prunkvoller aus mit den Reliefs in den Giebeln, den Skulpturen auf den Sockeln, dem Zierrat an den Gesimsen, ein zeitlos historischer Repräsentationsbau, der auch in Wien oder Buenos Aires, in Minsk oder in Kabul stehen könnte. Offenbar greift der Gedanke der Repräsentation weltlicher Macht zu den immer gleichen antikisierenden Formen, die sich der Säule, des Giebels, des Tympanons, des Bossenwerks und der Allegorien bedienen. Alle zusammen machen aus dem Profanbau einen Schrein, sagen gemeinsam, dass groß und schützenswert sein muss, was sich eine solche architektonische Erscheinung gibt.
Als ich eintreffe, finde ich: Dieser Reichstag sagt auch, dass er nicht leicht bezwingbar sein dürfte. Er ist auch ein Bau der Effekte, er prunkt und protzt, möchte Palacio Real, Palazzo Pitti, Hofburg und Louvre sein. Er entspricht dem Geschmack der italienischen Hochrenaissance. Seine Mauern sind hundertzwanzig Jahre alt. Seine Geschichte war kurzatmiger. Von der ersten Sitzung 1894 bis 1932 Sitz eines demokratisch gewählten, gesamtdeutschen Parlaments und in dieser Funktion erst von 1999 an wieder in Betrieb, hat er seine Symbolik gewechselt wie der umliegende Platz seinen Namen. Hieß dieser doch auch mal »Platz der Republik«, mal »Exerzierplatz vor dem Brandenburger Tor«, mal »Königsplatz«, dann wieder »Platz der Republik«.
In Deutschland war der Reichstag ursprünglich eine mobile Institution. Gewöhnlich trat er alle paar Jahre an einem anderen Ort zusammen. Seine Mitglieder waren nicht gewählt, sondern wurden von den Ständen benannt. Mit dem Wiener Kongress von 1815 änderte sich das: Die Bundesstaaten waren jetzt angehalten, Parlamente zu errichten, und in Frankfurt entstand der Bundestag, eine Versammlung der Lobbyisten, wie man heute sagen würde. Diesen Bundestag löste der Reichstag des norddeutschen Bundes ab. Dieser wiederum ging schließlich 1871 im Reichstag des Deutschen Reiches in Berlin auf.
Verfolgt man die Vielfalt der Debatten um den Bauplatz, die Entwürfe, die Anforderungen und die Kosten, glaubt man sich schon mitten in einer bundesrepublikanischen Parlamentsdebatte. Es meldeten sich damals sogar Stimmen, die ein Reichstagsgebäude überflüssig fanden. Verfassungsgemäß könne doch der Kaiser nach wie vor den Parlamentsort bestimmen, fanden sie. Endlich wurde in einem zweiten, von 189 Architekten anonym bestrittenen Wettbewerb der Sieger für ein Projekt gekürt, das in Deutschland ohne Vorbild war und das man in Fragen der Größe, der Akustik, der Funktionen nur imaginieren konnte. Der Frankfurter
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