Das Hohe Haus
Architekt Paul Wallot erhielt die Mehrheit der Stimmen. Mitte des Jahres 1883 konnte er sich nach seiner Revision des Erstvorschlags und der Abwehr der Intrige eines Mitbewerbers an die Arbeit machen. Als der Grundstein am 9 . Juni 1884 gelegt wurde, taten Wilhelm I., sein Sohn und sein Enkel die ersten Hammerschläge. Das Wetter war mies, das Publikum weniger parlamentarisch als militärisch.
Zwei Jahrzehnte dauerte es, bis die Widmung »Dem Deutschen Volke«, die Wallot sich selbst ausgedacht hatte, angebracht werden konnte. Der Kaiser hatte sie auf allen Wegen zu verhindern gewusst. Erst als er 1915 mit jedem Kriegstag um die Unterstützung des Volkes fürchten musste, ließ er wissen, wenn man die Inschrift denn anbringen wolle, so werde er sie zwar nicht offiziell genehmigen, sich aber auch nicht widersetzen. Die sechzig Zentimeter hohen, aus dem Metall von zwei in den Freiheitskriegen von 1813 erbeuteten Geschützrohren gegossenen Lettern wurden im Dezember 1916 als »Weihnachtsgeschenk für das deutsche Volk« über dem Hauptportal angebracht.
Auf dem alten Foto, das noch den Zustand zeigt, in dem Paul Wallot seinen nach zehnjähriger Arbeit 1894 vollendeten Bau übergab, findet sich statt der Kuppel nicht nur ein gewölbtes Dach auf quadratischem Grundriss, besetzt mit einer Laterna, es fehlen auch die Ecktürme, die Fenster waren schlichter. Es ist dies die versachlichte, wenn mal will: verschämte Version eines alten Repräsentationsgedankens.
Heute ist das Plenum überheizt, die Luft steht stickig, während draußen Schnee liegt. Er bedeckt sogar die Kuppel und dämpft das Licht. Die Reihen sind schwach besetzt, nur das Volk auf den Tribünen ist wieder vollzählig. Die Frage, die das Plenum beschäftigt, lautet: Wie kann ein Land, das nur 1 , 2 Prozent der Weltbevölkerung stellt und demnächst auf 0 , 7 oder 0 , 8 Prozent fallen wird, seine Rolle als viertgrößte Industrienation und seinen entsprechenden Wohlstand bewahren? Die Frage konfrontiert das Plenum mit der Groteske des Wachstums, einer Denkform des Unmöglichen, in dem man sich aber eingerichtet hat, denn die »Visionen« beziehen sich alle auf eine ideale, aber fiktive Zukunft. Eine Zukunft dagegen, die von diesen Privilegien nicht gesegnet ist, scheint für das Parlament kaum denkbar, sie würde unsere Lebensform in Frage stellen.
Deshalb formuliert Bildungsministerin Johanna Wanka auch nicht: »Wie soll das weitergehen?«, sondern: »Was ist die Ursache dafür, dass wir so gut sind?« Die Antwort ist parteiisch und lautet: »Die Ursachen sind eigentlich die Entdeckerfreude und der Erfindergeist der Menschen und die Innovationsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland.« Lauter Dinge, die in Indien, Brasilien oder Südafrika offenbar schwächer entwickelt sind. Es ist aber, wo eine »Generaldebatte über Bildung« geführt werden soll, signifikant, dass auch sie in wenigen Sätzen bei der Konkurrenz der Industrienationen und beim »Wohlstand« angekommen ist. »Ich weiß ja nicht, ob Sie das immer alles kapieren«, meint Wanka herablassend, und Michael Kretschmer ( CDU / CSU ) entfaltet seinen Esprit und ruft hinein: »Die SPD kapiert meistens nichts!« Damit ist man mitten in der Gegenwart der Zukunft, und das heißt auch im Verteilungskampf um die Verdienste am Wohlstand.
Das Streiten um die Urheberschaft von Erfolgen macht jede Debatte einfältig, wird aber die Zukunft zuverlässiger prägen als alles, was hier unter dem Wissenschaftsthema »Industrie 4 . 0 « besprochen wird und in der Rede der Ministerin nicht in seiner sozialen oder kulturellen Tragweite beobachtet wird. Angesichts aller Widersprüche, die zwischen Ressourcenknappheit, Verteilungskämpfen, Nord-Süd-Gefälle auf der einen und dem Festhalten am deutschen Status quo auf der anderen Seite bestehen, muss etwas ewig Menschliches die Abgründe schließen, etwas, das den Geist des Heimatromans mit dem der Science-Fiction versöhnt.
Dieses stiftet Heinz Riesenhuber ( CDU / CSU ): »Dass wir in Fröhlichkeit und mit Eigenständigkeit in einer komplexen Welt leben, ist eine begeisternswerte Tatsache, an der wir uns alle erfreuen.« Man weiß nicht – ist das eine Zustandsbeschreibung, dann sagt mir ein Blick über die Tribüne, dass sie falsch ist, ist es eine Ermunterung, dann sagt mir derselbe Blick, dass sie ins Leere geht. Ist es aber eine Form der Selbstbefeuerung, die keine Rückversicherung bei der Wirklichkeit mehr braucht, dann wäre sie schlicht
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