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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Tribüne unverhohlen die Köpfe. Der CSU -Mann kennt offenbar sein München nicht, hat auch nicht aufgeblickt, nicht gesehen, dass während dieser Debatte Studenten und Schüler, die es schlechter wissen, auf vier Tribünen sitzen. Es wird über ihre Gegenwart oder Zukunft verhandelt, aber sie werden nicht angesprochen oder zur Kenntnis genommen. Stattdessen hören sie, wie die Verantwortung verschoben wird auf vergangene Regierungen, auf Bürgermeister, Länderparlamente, denen man jetzt mit einem »Runden Tisch« begegnet.
    Was wird aus dem Blumenstrauß für Ottmar Schreiner?

Freitag, 19 . April, 9  Uhr  01
    Am Vorabend war von der Leyen bei »Maybrit Illner«. Ernst, geschickt, aber sachlich wenig überzeugend, manövrierte sie auf der Linie: Die Mehrheit für die Frauenquote hätten wir ohnehin nicht gekriegt. Jetzt können wir rascher vorgehen, weil sie im nächsten Wahlprogramm festgeschrieben sein wird. Und Illner fragte wirklich: »Hätte die Kanzlerin Sie entlassen müssen?« Da war es dann für alle fassbar, wie weitgehend sich das Thema veräußerlicht hatte.
    In den USA werden die Fotos zweier möglicher Boston-Attentäter veröffentlicht. Man sieht Obama auf der Kanzel einer Kirche predigen, die große Nation beschwörend in der Woche seiner Niederlagen. Nicht einmal die Kontrolle von Schnellfeuerwaffen hat er durchgesetzt. Es gibt neue Hungerstreiks und neue Selbstmordversuche in Guantánamo. Nach zehn Jahren Foltercamp aber ist das öffentliche Interesse längst weitergezogen.
    Das Gedenken des Tages gehört dem siebzigsten Jahrestag der Vernichtungsaktion im Warschauer Ghetto. Die Anwesenden im Bundestag erheben sich. Norbert Lammert verneigt sich vor den Opfern und sagt: »Ihr Kampf um die Menschenwürde ist und bleibt ein Vermächtnis für die nachfolgenden Generationen.« Die Verneigung ist aufrichtig. Aber was für ein Vermächtnis soll das sein, wenn man den bestehenden Gefangenenlagern der »Verbündeten« gegenüber stumm bleibt?
    Als Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit, anschließend die Diskussion um die Prävention im Gesundheitswesen eröffnet, nennt er »Solidarität und Eigenverantwortung« die Leitbegriffe der christlich-liberalen Koalition. Ich hänge noch hinterher. Wo zeigt sich eine »Solidargemeinschaft« außerhalb gesetzlicher Verordnungen? Haben die Häftlinge in Guantánamo keinen Anspruch auf die Solidarität eines Landes, das immer noch schwer an der Verantwortung für seine ehemaligen Lager trägt? Und wenn es um Solidarität geht, warum sagt auch der Gesundheitsminister kein Wort über den Zusammenhang von Armut und schlechter Gesundheitsvorsorge?
    Inzwischen zählt Johannes Singhammer ( CDU / CSU ) in breitem, selbstbewusstem Bayerisch Krankheiten auf und steigert sich bis zur Organtransplantation. Der Abgeordnete Ernst Hinsken ( CDU / CSU ) ruft rein: »Sehr Hinsken!« Existenzbeweis oder Dadaismus? Vielleicht ist es ungerecht, aber kaum tritt ein Redner selbstzufrieden auf, nimmt man ihm die Sorge für die Notlagen, von denen er spricht, nicht mehr ab. Andere Ärzte und Ärztinnen werden sprechen, besorgt. Eine von ihnen, Ärztin und Mutter, spricht aus der Praxis, verliest dann Stimmen von Experten aus dem Land: »Sind Sie so naiv oder handeln Sie wider besseres Wissen?« Das Parlament ist ruhig. Vielleicht, weil es noch nicht wach ist oder weil eine Kehraus-Stimmung über dem Haus liegt nach der gestrigen »großen« Debatte zur Quotenregelung.
    »Schaut auf die Gesundheit!«, sagt die Rednerin. Manchmal sitzen die Abgeordneten in der Fraktion, haben die zu jedem Klatschen entschlossenen Hände schon geöffnet und warten so in der Luft, bis ihr Einsatz kommt. Die Rednerin wendet sich nicht an die eigenen Leute. Sie wendet sich an die Anzugsfraktion von CDU und FDP , konfrontiert sich mit den Gegnern, während der Minister geistesabwesend einen Text redigiert.
    Ich höre weiter zu. Nein, es mangelt dem Parlament nicht an den Glaubwürdigen. Aber wir kennen nur jene, die sich für Talkshows nicht zu schade sind. Die Realität des Parlaments kann nichts anderes sein als die Abweichung von jenem Ideal des Hauses, in dem die disparaten Gruppen einer Gesellschaft miteinander in Verbindung treten sollten. Es ist ein gekränktes Ideal, und erstaunlich: Die Dokumentation des Geschehens im Saal ist maximal, gemessen an Kameras, Teleobjektiven, Zuschauertribünen, Protokollen, der Parlamentszeitung. Zu sehen aber ist vor allem Ablenkung, Zerstreuung, Missachtung.

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