Das Hohe Haus
Gerade hat jemand unten im Plenum breit die Zeitung aufgeschlagen und liest. Der Blumenstrauß für Schreiner ist abgeräumt. Eine Abgeordnete hat seinen Platz eingenommen.
Der Gesundheitsminister sitzt allein, unflankiert. Angelika Graf ( SPD ) nennt den Gesetzentwurf ein leeres Glas mit falschem Etikett. Im selben Augenblick bringt die Saaldienerin dem Minister ein volles Glas Wasser. Immerhin schüttelt er jetzt manchmal den Kopf mit Blick auf die Rednerin, wendet sich auf dem Wort »Murks« aber wieder seinem Smartphone zu. »Sie haben ein Feigenblatt vorgelegt«, schimpft Graf.
Doch dann folgt einer jener Fälle, in dem sich das Leben gewissermaßen selbst zum Thema macht und vor die Rede drängt. Erwin Lotter ( FDP ) schreitet aus der ersten Bank behutsam ans Rednerpult. Schneeweißhaarig und rotgesichtig ist er, die brüchige Stimme verrät eine Schwäche. Erst auf den zweiten Blick aber erkennt man von der Tribüne, dass er einen flachen Rucksack trägt. Auch sind Schläuche, die über und unter seinem Anzug geführt werden, mit diesem Gepäck auf dem Rücken verbunden. Er ist krank, etwas Inständiges liegt darin, ihn von Krankheit reden zu hören. Auch ist er selbst Arzt, spricht, als stünde er in seiner eigenen Praxis, wobei sein Einatmen manchmal mühevoll klingt.
Der Respekt für die Person des Redners verhindert bis kurz vor Schluss jeden Zwischenruf. Seine letzten Worte sind ein Appellieren »im Interesse der Gesundheit unserer Bürger«. Eine SPD -Abgeordnete wirft seiner Koalition vor, sie habe »Zeit verstreichen lassen«. Das aber bekommt einen makabren Doppelsinn, als Lotter seinen Nachtrag formuliert und sagt: »Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war voraussichtlich meine letzte Rede hier an dieser Stelle, weil ich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidieren werde. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit mit den gesundheitspolitischen Sprechern aller Fraktionen bedanken. Man erlebt als Parlamentarier nicht unbedingt immer nur Glücksmomente. Aber es gab Momente, in denen man jenseits der parlamentarischen Rituale und des Aufeinander-Eindreschens doch bei allen Kollegen das Ringen um die beste Lösung gespürt hat. Es gab auch Momente, in denen man das Gefühl hatte: Ja, die menschliche Basis stimmt. Da möchte ich mich – das wird Sie jetzt vielleicht wundern – stellvertretend für alle anderen beim Kollegen Lauterbach bedanken, weil ich ihn trotz der politischen Meinungsverschiedenheiten, die wir haben, immer als sehr kollegial empfunden habe und weil er in menschlicher Hinsicht hochanständig war gerade in dem Moment, als ich krank geworden bin. Dafür herzlichen Dank. Ich wünsche mir und dem nächsten Deutschen Bundestag, dass dieser menschliche Aspekt erhalten bleibt. Vielen Dank.«
Der Beifall ist allgemein. Erst Lauterbach, dann Lammert reagieren, wünschen ihm wohl, und zuletzt verlässt selbst Daniel Bahr die Regierungsbank, um ihm die Hand zu schütteln, wie ihn auch andere Abgeordnete aus dem Ausschuss umringen. Darunter Frauen, die ihn umarmen, solche, aus deren Zügen das Mitleid nicht weicht. Präsident Lammert schließt seinen Dank mit den Worten: »Die allermeisten von uns haben mit großem Respekt registriert, unter welchen erschwerten Bedingungen Sie Ihr Mandat in den letzten Monaten wahrgenommen haben. Deswegen gilt Ihnen unser Dank und Respekt mit allen guten Wünschen für die Zeit nach Ende dieser Legislaturperiode.«
Verwandte Worte werden auch die nächsten Redner finden, und zwangsläufig werden sie anschließend kälter und schärfer, sobald sie zu ihrem Thema abbiegen. Erwin Lotter sitzt währenddessen immer noch in der ersten Reihe. Sein Glas ist leer. Wo er klatscht, tut er es dreimal, als reiche die Kraft nicht zu mehr. Meist faltet er die Hände vor dem Gesicht. Arbeitet er für eine Zukunft, die er nicht erleben wird? Anlehnen kann er sich nicht, denn da ist der Rucksack, der Rede von Stefanie Vogelsang ( CDU / CSU ) folgt er also aufrecht und konzentriert. Ihr Ton ist sanft wie im Nachhall auf seinen Appell an die Menschlichkeit. Lotter rollt verlegen eine leere gelbe Klarsichthülle in den Händen. Er hört vom Podium die nächsten guten Wünsche für »seinen weiteren Werdegang«, den sich wohl niemand so recht vorstellen kann. Seit Ende 2011 leidet er an idiopathischer Lungenfibrose, die ihn zwingt, ein Sauerstoffgerät mit sich zu führen. Noch immer kommen Abgeordnete und
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