Das Hohe Haus
schütteln ihm die Hand, dann leert sich der Saal, und der Alte geht ab. Das Plenum wendet sich der »Wirtschaftskriminalität« zu.
Mittwoch, 24 . April, 13 Uhr 01
Am Vorabend hat Bayern München im Hinspiel des Champions-League-Halbfinales Barcelona mit 4 : 0 besiegt. Uli Hoeneß absolvierte den ersten öffentlichen Auftritt nach der Enthüllung seines Steuerbetrugs, trug einen Fan-Schal und wurde vom Verein gestützt.
Das Licht ist freundlich, das Plenum fast leer. Als Thema für die Befragung der Bundesregierung wird von Lammert »Die Verordnung über die Kompensation von Eingriffen in Natur und Landschaft«, genannt »Bundeskompensationsverordnung«, angekündigt. Auf der Tribüne haben sich jetzt die hellen Farben des Frühsommers durchgesetzt, Pastelltöne, Polohemden, Blazer, Ringelleibchen. Die Besucher bringen die Natur geradezu mit.
Minister Altmaier seufzt vernehmbar in seinen Ausführungen. Das hat wohl vor allem mit dem Thema zu tun und dem Unterholz der Terminologie, durch das er sich schlägt. Diese kennt den Begriff »Lebensräume«. Aus der Sprache aber hat sich das Leben nicht nur zurückgezogen, sie wirkt geradezu wie ein eigener Angriff auf die Natur. Es geht um die »naturschutzrechtliche Eingriffsregelung«, um »Biotopwertverfahren«, die »vertikale Beeinträchtigung des Landschaftsbildes«, die »flächensparende Aufwertung von Natur und Landschaft«, die »Entsiegelung und Wiedervernetzung von Lebensräumen«, den »Vollzug der Eingriffsregelungen«, die »Freiflächenregelung für Photovoltaik«, die Einrichtung eines »Kompensationskatasters«, um »agrarstrukturelle Belange« und das »objektive Kriterium« des »Bodenschätzungsgesetzes«. Fazit: »Der Kernbereich der Verordnung ist abweichungsfest.« Welchen weiten Weg muss die Naturbetrachtung gegangen sein, bis sie bei dieser Terminologie ankam und irgendwann den Begriff »Landschaftsverbrauch« gebar.
Dass Altmaier diese Sprache nicht flüssig spricht, sichert ihm Sympathie. Auf eine Nachfrage gerät er ins Schwimmen, blättert, murmelt, »soweit ich das hier sehe«, muss in den Text zurück, den er in der Hand hält und studiert, während weiter Fragen gestellt werden. Sein violetter Schlips fließt über die Bauchwölbung. Die Antworten kommen zögernd. Mit all den losen Blättern vor dem Rumpf agiert der Minister eher gesprächsbereit, und ebenso reagieren jetzt die Fragesteller der Opposition. Ein seltenes Mal hat man den Eindruck, alle beugen sich unparteiisch über ein Problem des Naturschutzes und der Flächennutzung.
Man kann in den hin und her gehenden Kommentaren der Abgeordneten keine Parteizugehörigkeit erkennen. Die Fragen treiben die Vertiefung des Themas so sachlich weiter, dass Altmaier verschwenderischen Gebrauch von seinen Lieblingswörtern »gemeinsam« und »Konsens« machen kann, den größten Dissens aber mit einem der eigenen Parteikollegen erlebt: »Ihr Entsetzen teile ich nicht.« Es handelt sich um eine kleine, glanzlose, statt von der großen Öffentlichkeit nur von der Tribüne aus verfolgte Auseinandersetzung, die vielleicht deshalb so sachlich ist. Man arbeitet.
Der alte Saaldiener sitzt unterdessen wieder auf seinem angestammten Platz, obere Reihe, zweiter Sessel von rechts auf der Bundesratsbank. Er rutscht immer ein wenig in sich hinein und wirkt mit den Papieren in den ruhenden Händen wie einer jener Greise aus einem russischen Roman, die in der Pflicht windschief wurden. Was muss er gesehen, gehört, überhört und vergessen haben!
Als die Fragestunde beginnt, übernimmt die Parlamentarische Staatssekretärin Katharina Reiche. Es geht um die Gesundheitsrisiken durch Laserdrucker, die »eine Milliarde Nanopartikel an Schadstoffen pro Seite« ausschütten. Eben noch beugte sich das Parlament über Lebensräume, jetzt über eine ausgedruckte Seite. Frau Reiche redet von »Kleinfeuerungsanlagen«, von »Luftqualität«, sie trägt den Kollektivstandpunkt der Bundesregierung vor. Die Schülerinnen auf der Tribüne blicken sich um. Vielleicht wollen sie in den Gesichtern der Schulkameradinnen lesen, ob die es auch so … so öde, fremd, lebensfern, unverständlich finden. Dann wird es ihnen zu viel, und sie gehen vor ihrer Zeit. Unterdessen wird da unten auf dem Nebenschauplatz der Druckseite, also immerhin mitten im täglichen Leben vieler, sachlich weitergearbeitet. Die Konzentration hat etwas Somnambules. Um 17 Uhr 01 wird die Sitzung geschlossen.
Donnerstag, 25 . April, 9
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