Das Hohe Haus
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Am Vorabend hat Borussia Dortmund vor 13 , 7 Millionen Fernsehzuschauern Real Madrid mit 4 : 1 im zweiten Halbfinalspiel der Champions League geschlagen. Borussia Dortmund und Bayern München und die »Vernichtung« der beiden spanischen Mannschaften aus Madrid und Barcelona bestimmen die Aufmacher. Auch dass Italien einen neuen Regierungschef hat, kommt vor. Auch, dass Uli Hoeneß gejubelt hat.
Der Sommer ist kurzfristig eingetroffen, das Schattenspiel in der Kuppel konturiert wie nie, so viel Kraft hat die Sonne schon. Der Himmel strahlt stahlblau. Als ich meinen Platz eingenommen habe, zermatscht Rainer Brüderle ( FDP ) Silbentrauben im Mund. Er eifert: »Wir haben im Haushalt die schwarze Null auf den Weg gebracht, erreicht.« Das ist zweierlei, aber Hubertus Heil ( SPD ) ruft rein: »Sie sind die schwarze Null!« Ja, so kenne ich mein Hohes Haus: dauernd den Kopf im Himmel der Visionen, aber mit den Füßen im Matsch.
Brüderle kennt die Politik der Gegner in drei Formen, als »absolut falsche Politik«, als »grottenfalsche Politik« und in der Version: »Die Bürger werden entscheiden, ob eine vernünftige Politik fortgesetzt wird oder irrer Gulasch gemacht wird.« Irrer Gulasch? Die Rede wirkt semantisch so unaufgeräumt wie phonetisch. Die Zwischenrufe der SPD lesen sich später im Protokoll: »Tötö, tötö, tötö!«, und nach Ende der Rede: »Helau und Alaaf! Narrhallamarsch!« Ganz leicht ist es gerade nicht, unter dem Kostüm des Humoristen eine Person zu identifizieren, die die Lebenswirklichkeit anderer Menschen prägen will.
Wenig später quittiert Volker Kauder ( CDU / CSU ) die Rede von Hubertus Heil ( SPD ) mit den Zwischenrufen »Dümmlich« und »Blödmann«. Auch das geht ungerügt durch. Als Kurt Schumacher Adenauer ehemals als »Bundeskanzler der Alliierten« titulierte, wurde er vom Bundestagspräsidenten für zwanzig Sitzungstage von den Debatten ausgeschlossen. Es gab Ordnungsrufe für »Marionettenregierung«, »Hetzer«, »Krieg vorbereiten« oder dafür, wenn jemand zum zweiten Mal nicht auf das Glockenzeichen des Präsidenten reagierte, für »Lüge«, für »Unerhört« gegenüber dem Präsidenten, für »Dummheit«, »der ist besoffen«, »armselig«, »unverschämter Lümmel«, »Wühlratten«, »Sie leiden ja an geistiger Schwäche«, »schweinische Hetze«, »Schafskopf«, »Heckenschütze«, »Flegel«, »Verleumder«, »Fälscher« und »der Kopfjäger von Formosa«. Die Frage an den ehemaligen Minister Leber, ob er bereit sei, sich einem »Promilletest« zu unterwerfen, wurde tatsächlich geahndet, dass mehrere CDU -Abgeordnete Helmut Schmidt als »Goebbels« bezeichneten, dagegen nicht. Auch bezeichnete man das Parlament nicht ungetadelt als »größte Schwindelbude der Nation«.
Unterschiedliche Ressorts, so scheint es, entwickeln unterschiedliche Aggressionsgrade. Um ökonomische und wirtschaftspolitische Themen wird ruchloser gestritten als um solche der Ökologie oder Bildung. Zugleich lässt sich eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche auch sprachlich nachweisen. So nimmt Peer Steinbrück der Gerechtigkeit ihren Rang als absoluter Wert der Demokratie, indem er sagt: »Ich bin überzeugt, dass Gerechtigkeit nicht nur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von zentraler Bedeutung ist, sondern sich auch für alle rechnet und für alle rechnen muss.«
An der Realität geht diese Aussage in allen drei Satzteilen zu Bruch: Der gesellschaftliche Zusammenhalt funktionierte auch in der Demokratie immer schon ohne Gerechtigkeit, sie rechnet sich auch nicht für alle, und das muss sie nicht einmal, solange das Volk sein Volk-Sein so passiv interpretiert. Im hohen Ton der parlamentarischen Rede kann also alles ertränkt werden: Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat sagt Dinge, die kein konservativer Neoliberaler anders sagen würde, und die dann immer noch falsch wären und von den Falschen beklatscht würden. Nur sieht das Grundgesetz vor, dass Gerechtigkeit ein Selbstwert ist, der sich ökonomisch nicht bewähren muss, weil er das Menschenrecht charakterisiert, auf dem Demokratien vermeintlich fußen.
Das Parlamentarische heißt aber auch: Widerspruch um jeden Preis, das heißt, man staunt, an welcher Stelle Einwände überhaupt formulierbar, wo sie zum Prinzipienstreit aufzublähen sind. Demokratie ist ja nicht nur die Herstellung eines Konsenses, sie ist auch die Formulierung eines Widerspruchs, der klingen muss, als läge die ganze Welt mit sich im Hader.
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