Das Hohe Haus
dafür ihre Gesundheit und ihr Leben zu opfern. Das muss man anerkennen. Man muss sagen: Diese Leute gehören zu Europa, und auch die Türkei gehört zu Europa.«
Man sieht, ein Parteistandpunkt zerfällt in Module: Hier die Sympathie mit den türkischen Demonstranten, dort ihre Ausgrenzung in rechtlicher und weltanschaulicher Hinsicht. Wo ist die Stringenz der Standpunkte, und wer forderte sie ein oder richtete sein Wahlverhalten an ihr aus? Gerade ist der Erregungspegel hoch. Der Redner der CDU / CSU propagiert, Mehrstaatlichkeit führe zu Identitätskonflikten, gefordert sei eine »Missbrauchskontrolle«. Der Redner der SPD verweist auf Roland Kochs fatale Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Der Saal ist jetzt fast voll, die Aufmerksamkeit kläglich. Die meisten FDP -Abgeordneten haben den Rücken zum Rednerpult gewendet, wo der CDU -Mann eben resigniert. Er redet jetzt für sich, endet mit ersterbender Stimme, auch der Applaus flüstert bloß. Nein, diese Rede suchte keine Legitimität mehr, sie wollte es nur noch hinter sich haben.
Zur namentlichen Abstimmung werden die Urnen wieder umschwirrt wie die Bienenstöcke. Lammert sitzt als Wagenlenker hinter dem Mikrophon und moderiert das Verfahren, räuspert sich mehr Aufmerksamkeit herbei. Eine kunstbraune CDU -Abgeordnete zieht sich die Lippen nach, tatsächlich, steht im Plenum abgewandt und schminkt sich. Die Abstimmung ist wieder das Langweiligste. Die Bank gewinnt immer. José, der Saaldiener, erzählt mir unterdessen, er sei der Sohn eines spanischen Kranführers und einer spanischen Hausfrau, die in Bonn auch als Reinigungskraft arbeitete und immer verlangt hatte, dass er gut Deutsch lerne, sich integriere. Heute arbeitet er im Bundestag, weiß bei Länderspielen zwischen Deutschland und Spanien nicht, zu wem er halten soll, und singt beide Hymnen mit.
Es folgt die Befragung zum »Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit in den Jahren 2011 und 2012 « – ein Etikettenschwindel, hat doch Kulturstaatsminister Bernd Neumann eigenhändig entschieden, ausschließlich über die Verwendung jener sechzehn Millionen Euro zu referieren, die er in die Pflege des »kulturellen Erbes der früheren deutschen Ost- und Siedlungsgebiete« gesteckt hat. Von seinem Platz liest er den Text ab, als sähe er ihn zum ersten Mal. Kein Satz kommt frei, mancher zögernd, dann sucht der Redner grammatische Klammern oder verbucht den Besuch eines Projekts von Peter Maffay in Rumänien als »Erinnerungskultur«. Die Alten auf der Nachbartribüne schleppen sich in Sandalen dem Ausgang entgegen. Da endet auch Neumann, legt die Uhr an, zieht sich die Hose hoch, prüft den Sitz seines rosa Schlipses und erwartet die erste Frage.
Als sie kommt, muss er blättern, kann die Seite nicht finden. Als er die Themenverfehlung seines Berichts begründen soll, kann er es nicht. Als er gefragt wird, nach welchen Maßstäben er vorgegangen sei, als er allein zehn Millionen Euro an das Sudetendeutsche Museum in München gegeben habe, verweist er auf den Haushaltsausschuss, sagt: »Solche Museen sind eine Bereicherung für den Kontakt und den Kulturaustausch mit den verantwortlichen Leuten in diesen Gebieten.« Wie viele Menschen aber diese Einrichtung besuchen, die er mit diesen zehn Millionen Euro unterstützt, weiß er nicht. Seine Antworten könnten vager nicht sein. Nur seine Redezeit überzieht er regelmäßig bis zur wiederholten Ermahnung durch den Präsidenten.
Als er eine Gefälligkeitsfrage aus der eigenen Fraktion erhält – und mehrere solcher Fragen kommen ihm jetzt zu Hilfe –, muss er auch hier ablesen, antwortet in Hülsen oder muss versprechen, Auskünfte nachzuliefern. Einmal sagt er auch einfach: »Jetzt habe ich die dritte Frage vergessen.« Agnes Krumwiede ( B 90 / DIE GRÜNEN ) ruft: » KZ -Gedenkstätten!«, und er fährt fort: »Aber ich habe auch gar keine Zeit mehr, sie zu beantworten.«
Nicht nur der immer offensichtlicher werdenden Unkenntnis des Staatsministers wegen wird dem Plenum das Fragen schwergemacht. Der zugrundeliegende 44 -seitige Bericht hat wieder erst eine Stunde vor dieser Befragung die Abgeordnetenbüros erreicht. Diese Praxis macht eine Befragung zur Farce, wird aber von Lammert und Neumann unisono für üblich erklärt und verteidigt. Als wenig später herauskommt, dass Neumann den eigenen Bericht offenbar nicht richtig kennt, erwidert er der Fragenden: »Ihre Vermutung, dass
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