Das Hohe Haus
Streit von seinem Gegenstand und verselbständigt sich zum Zwist über ein Bild des Landes, über den Umgang miteinander, über Formen.
Diese Differenz zeigt sich schroffer noch, wo es um Grundversprechen der Politik wie »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« geht, wie sie der Enquete-Bericht umreißt. Es handelt sich um Grundfragen der demokratischen Kultur. Mit Georg Nüßlein ( CDU / CSU ) eröffnet ein Redner die Debatte, der vom »Schützengraben« der Auseinandersetzungen in der Kommission spricht, zufrieden ist, keine Einigung erzielt zu haben, hätte ihn eine solche doch »als Demokraten auch massiv erschüttert«, der also den Dissens bei der Themenformulierung wie bei den Resultaten als Adelung beschreibt, den gewählten Gegnern der Linken aber erst mal demokratische Legitimität abspricht.
Seine Beschimpfungen sind zunächst bloß wüst, dann brüllt er, gestikuliert mit zwei Zeigefingern gleichzeitig, und die dünne demokratische Glasur des Anfangs reibt sich ab. »Mäßigen Sie sich!«, ruft ein Abgeordneter. »Lassen Sie mich doch reden, Mensch!«, ereifert sich Nüßlein und gibt »offen zu«, dass »ich gerade in Wahlkampfphasen gerne provoziere« – ein Demagoge, der nur einen kleinen Teil seiner Redezeit auf das Thema, den größten Teil auf Systemfragen, Schuldzuweisungen verwendet. Jetzt brüllt er wieder, breitet die Arme aus und blickt theatralisch gen Himmel, wettert und geht dann ab, zufrieden lachend, weil er gezündelt hat. Wenn er Volksvertreter ist, wo ist das Volk, das sich so vertreten lassen möchte, das Volk des Ressentiments? Und was könnte man Skrupelloseres mit solchen Auslassungen machen, als sie ernst zu nehmen? Oder, wie Alec Guinness sagte: »Schlechten Argumenten begegnet man am besten, indem man ihre Darlegung nicht stört.«
Nicht gesagt hat Nüßlein, dass die Kommission, die er in Grund und Boden redet, vor 28 Monaten eingerichtet wurde, als die Bankenkrise die Fehler des Systems und eines liberalisierten Finanzmarktes offensichtlich gemacht hatte. Wenig später ist die Selbstreflexion, die zur Kritik des Systems unerlässlich ist, offenbar schon wieder unmöglich geworden. Was eine Systemschwäche ist, wird also bei Nüßlein zum Einzelfall, zur Ausnahme degradiert, die keine politischen Konsequenzen nach sich ziehen wird. Es bedeutet aber auch, dass die systemkritischen Ansätze aus der Kommissionsarbeit dem Linolschnitt der Regierungslogik weichen müssen. Zu wie viel Selbstkritik also ist das Parlament in Systemfragen fähig, zu wie viel Erneuerung?
Es ist dies zugleich die Stelle, an der das stereotyp eingeforderte »Visionäre«, also eine Haltung, die die Zukunft erst denkbar macht, formuliert werden müsste. Doch unter Umständen bedarf es dazu einer Unabhängigkeit von Partei- und Fraktionsdisziplin, wie sie sich bei Daniel Kolbe ( SPD ) oder Ulla Lötzer ( DIE LINKE ) dort verrät, wo sie den Wachstumsgedanken in Frage stellen oder auch die Kategorie der »Freiheit« weniger instrumentell zu denken suchen. Manchmal erscheint in diesen Beiträgen das Bild eines vernunftbegabten Staates, der sich statt aus materiellem Zuwachs aus sozialen Leistungen bestimmt. Es gibt aber kein Anknüpfen an solche Überlegungen, sie stehen in sich. Sooft die Dimension der Zukunft auch angespielt wird, gerade sie scheint hinter dem realpolitischen Horizont nicht denkbar.
Da zitierte eine Abgeordnete der Linken ein Wort Albert Einsteins, das an der Baustelle des neuen Ministeriums für Bildung und Forschung angebracht ist und »sinngemäß« lautet: »Die Menschheit muss ihr Denken grundlegend verändern, wenn sie überleben will.« Dann schließt sie den Passus eines Berichts aus einer Projektgruppe an, in dem es heißt: »Der kulturelle Wandel hin zu mehr Mäßigung und zu einer gerechten Verteilung ist eine unverzichtbare Voraussetzung für eine gerechte und friedliche Welt und für die Steigerung der Lebensqualität.« Schließlich bezieht sie sich auf Debatten, die sie mit verschiedenen NGO s und den Blockupy-Protestierern geführt hat, und lässt die Idee eines »neuen Denkens« durchscheinen.
Anschließend reagiert Michael Kauch ( FDP ) mit der Unterstellung, dass die Rednerin »den Begriff vom ›neuen Denken‹ mit dem Begriff vom ›neuen Menschen‹ verwechsele, den die Kommunisten schaffen wollten, und den sie jetzt auf neuem Wege durch die Hintertür verordnen wollen. Sie reden von neuem Denken, aber sie meinen neue Regeln; denn sie wollen die Gesellschaft
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